Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Mit hochgezogenen Augenbrauen ließ sie die Nüsse, die sie aufgesammelt hatte, in die halb leere Schüssel neben dem Teller mit den Kerzen fallen.
»Ich hatte Euch jedenfalls nicht so bald erwartet«, verbesserte er sich ohne einen Anflug von Schuldbewusstsein. »Es ist schön, Euch wiederzusehen«, sagte er, nahm ihre Hand und zog sie ins Licht. Sogleich verpuffte ihr Wagemut, und sie spielte verlegen mit einer Hand an ihrem Hals. Sie war nicht daran gewöhnt, so galant behandelt zu werden.
Kralle zwitscherte fröhlich von der halbhohen Wand herunter, und Alissa strich zur Begrüßung über ihr Federkleid; sie war überrascht, den kleinen Vogel hier bei Lodesh vorzufinden. »Was tut Ihr denn hier unten?«, fragte sie Lodesh und ließ den Blick über sein behagliches kleines Versteck schweifen. Er hatte alles mit Stoff bedeckt, um die groben Holzbalken und den alten Staub zu verbergen – genug gutes Tuch, um ein ganzes Kleid mitsamt Unterrock daraus zu nähen. Er musste es sich aus den Kellern geholt haben. Das Ganze erinnerte sie an das improvisierte Spielhaus eines Kindes, nur aus Seide und Leinen statt aus groben, rauen Wolldecken. »Ist Talo-Toecan auch hier?«
Lodesh schüttelte den Kopf und zog sie weiter hinein. »Nein. Nur ich, meine Teuerste.«
Alissa spürte einen Anflug von Misstrauen und entzog ihm ihre Hände. Er hatte ihre Frage nicht beantwortet. »Ich wollte Strell gerade Tee bringen«, erklärte sie. »Er ist nebenan in der Küche. Möchtet Ihr nicht mitkommen und ihn kennen lernen? Wir könnten zusammen Tee trinken.«
»Nein.« Er sah ihr in die Augen, und sein Blick ließ ein plötzliches Gefühl in ihr aufwallen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich, und sie wandte sich nach dem Tunneleingang um, der von hier aus nicht zu sehen war. Dieses Gefühl einer vergessenen Erinnerung durchflutete sie, genau wie damals im Hain, und ihr Herz schien sich vor namenlosem Kummer zu verkrampfen. Ihr Gesicht wurde kalt. Verängstigt von Gefühlen, die nicht die ihren sein konnten, trat sie zurück.
»Alissa«, sagte Lodesh, und ein besorgter Ausdruck legte seine Augenwinkel in kleine Fältchen. »Geht nicht. Noch nicht. Es tut mir leid. Ich wollte Euch nicht in Verlegenheit bringen. Es ist nur –«
»Es liegt nicht an Euch. Es sind die Stallungen.« Alissa konnte ihm bei dieser Halblüge nicht in die Augen sehen und betrachtete stattdessen die vergessenen Besen und Schaufeln. Pferde machten sie nervös, doch die widersprüchlichen Emotionen, die Lodesh in ihr aufrührte, waren noch verstörender. Aber es war kindisch, sich von einem Gefühl Angst einjagen zu lassen. Außerdem waren diese Emotionen jetzt verschwunden.
Sein besorgter Blick wich leiser Bestürzung. »Das hatte ich vergessen. Ihr mögt keine Pferde, nicht wahr?«
Kralle zwitscherte warnend und hüpfte auf Alissas Schulter. Alissa zuckte unter den scharfen Krallen zusammen, wickelte sich das Tuch, das sie wegen der heißen Kanne in der Hand hielt, um die Finger und setzte den Falken wieder auf die niedrige, mit einem Teppich geschmückte Zwischenwand. »Ja, das stimmt«, sagte sie. Dann runzelte sie die Stirn. »Woher wisst Ihr –«
»Oh. Na ja.« Lodesh wandte sich ab, um eine Kerze wieder anzuzünden, die erloschen war. »Ihr seid im Hochland aufgewachsen, ja? Alle Hochländer haben eine Abneigung gegen Pferde, nicht wahr?«
»Nein«, erwiderte sie. »Meine Mutter hatte früher eines, aber sie hat mir erzählt, dass es den Zaun durchbrach und weggelaufen ist, kurz nach meiner Geburt. Danach sind wir auch ohne ein Pferd zurechtgekommen.« Sie scharrte mit dem Schuh auf einem der Teppiche. »Pferde mögen mich nicht«, schloss sie und empfand einen Nachhall kindlicher Angst.
»Mein Fehler«, sagte er. »Setzt Ihr Euch trotzdem zu mir?« Er schlang einen Arm um ihre Taille und führte sie zu einem Strohballen, der mit Leinen in einem warmen Rot bedeckt war. »Nur einen Augenblick? Ich verspreche, ich werde Euch nicht wieder … in Verlegenheit bringen.«
Ihre Brauen hoben sich, als sie sich setzte. Das hörte sich an wie eine Herausforderung. »Das habt Ihr nicht«, sagte sie mit einer Selbstsicherheit, die sie nicht empfand. »Aber warum kommt Ihr nicht mit mir hinüber in die Küche? Strell hat eingeheizt. Ich fürchte, er glaubt mir nicht, dass es Euch gibt.«
Lodesh schüttelte den Kopf und setzte sich ihr gegenüber. Seine beinahe höfische Maniertheit war von ihm abgefallen, und Alissa fand ihn so nur noch charmanter. »Ich sollte
Weitere Kostenlose Bücher