Alissa 2 - Die geheime Wahrheit
Flucht und rannte zurück zur großen Halle, ehe er etwas erwidern konnte.
Ihr Herz hämmerte in ihrer Brust, während sie erhitzt und verwirrt den Weg zu Strells Töpferwerkstatt einschlug – ihre Füße folgten dem vertrauten Weg wie von allein. Sie hielt die wieder erkaltende Teekanne in einer Hand, umklammerte den Griff, als sei die Kanne das einzig Wirkliche, Verlässliche auf der Welt, und erst jetzt fiel ihr auf, dass sie die Becher im Stall vergessen hatte. Die zähe Verwirrung, die Lodeshs Kuss hinterlassen hatte, wirbelte noch immer in ihr herum, als sie die unterirdische Küche erreichte und blinzelnd auf der Schwelle stehen blieb, um zuzusehen, wie Strell an seiner Töpferscheibe arbeitete.
Der Brennofen war heiß, und Strell hatte seinen Kittel ausgezogen. Die Muskeln zwischen seinen Schultern ballten und verschoben sich, während er sanft und sehr geschickt den Ton formte. Er wusste nicht, dass sie da war, und sie beobachtete ihn wie gebannt. Die Sonne fiel auf seine Haut, die beinahe zu leuchten schien. Sie verlagerte das Gewicht auf den anderen Fuß, und bei diesem leisen Geräusch blickte er auf.
»Alissa«, sagte er lächelnd. Dann runzelte er die Brauen und zog die Hände von seinem Werkstück zurück. »Was ist denn passiert? Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«
Sie holte hastig Luft und erinnerte sich nur mit Mühe daran, warum sie überhaupt hier unten war. »Lodesh«, sagte sie und schüttelte sich, um wieder zu sich zu kommen. »Er ist in den Stallungen. Komm mit hinüber, damit du ihn kennen lernen kannst.«
»Er ist hier?« Strell sprang auf, schnappte sich ein Handtuch und reinigte sich die Hände. »Zeig ihn mir.« Er griff hastig nach seinem Kittel, der auf einem unbenutzten Tisch lag, und fuhr mit den Händen in die Ärmel. Dann nahm er die Teekanne aus ihren gefühllosen Fingern und stellte sie ab. Er ergriff ihre Hand und zog sie den Tunnel wieder hinauf. Sie stolperte hinter ihm drein und fragte sich, warum er sie eigentlich noch nie so geküsst hatte.
Erst als sie die Stallungen erreichten, schüttelte sie ihren wirren Schockzustand ab und entzog Strell sacht ihre Hand. »Lodesh?«, rief sie zögerlich, während sie sich im Dunkeln vorantastete, auf den schwachen Schimmer einer Kerze zu.
Sie erhielt keine Antwort, und ihre Verlegenheit mischte sich mit Erleichterung, als sie und Strell den prächtig ausgeschmückten Verschlag erreichten und ihn leer vorfanden, bis auf eine noch brennende Kerze, zwei Becher und Kralle. Strell erstarrte, als er die mit Stoff verhüllten Strohballen und den Teller voller Kerzen sah, nun alle erloschen außer dieser einen. Er trat vor, um sich das näher anzusehen, berührte sogar die Nuss, die auf dem Teller lag, und ließ sie klappernd wieder fallen. »Er ist noch nicht lange weg«, erklärte Strell. »Das Wachs der erloschenen Kerzen ist noch weich.«
Sie sagte nichts. Lodesh musste unmittelbar nach ihr gegangen sein. Sie wusste nicht recht, was das zu bedeuten hatte. »Er war hier«, sagte sie schließlich. »Genau hier. Wir haben Tee getrunken und uns unterhalten.«
»Tee?«, wiederholte Strell, und sie blickte auf, als sie den dumpfen Klang seiner Stimme hörte. Er hatte die Zähne zusammengebissen und trug einen Gesichtsausdruck, den sie noch nie bei ihm gesehen hatte.
Zwitschernd hüpfte Kralle auf Alissas Schulter, die das Zwicken der kleinen Klauen zu spüren bekam. »Komm«, sagte Strell, nahm sie beim Ellbogen und zog sie mit sich, den Tunnel entlang zur großen Halle. »Er ist nicht mehr da. Gehen wir lieber zurück – dahin, wo es warm ist.«
– 16 –
N icht allein. Nicht der Letzte. Keribdis. Irgendj e mand. Hört ihr mich!«
Alissa fuhr keuchend aus dem Schlaf, und die letzten Worte ihres Traums hallten in ihren Gedanken nach. Es war dunkel, und einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie sich befand. Der Traum war ihr beinahe echter erschienen als die Wirklichkeit. Ein eisiger, dunkler Strand, silbrig im Licht des untergehenden Vollmonds, das Rauschen kleiner Kiesel in den Wellen und der Geruch von Salz, der schwer in der Luft lag. Die Eindrücke waren so lebhaft gewesen, dass sie sicher war, die Stelle wiedererkennen zu können, falls sie jemals die Reise ans Meer unternahm, so unwahrscheinlich das auch sein mochte. Ein Gefühl schmerzvoller Einsamkeit und der Nachhall eines gebrochenen Versprechens tobten in ihr. Das waren nicht ihre Emotionen, und Alissa untersuchte sie sorgfältig, ehe sie
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