Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
darstellte. Es war hoffnungslos, die entscheidenden Pfade herausfinden zu wollen. Sie würde sie alle verbrennen müssen. Der Schmerz würde unvorstellbar sein.
»Ich kann nicht alles verbrennen«, flüsterte Alissa Bestie zu. »Das würde sie umbringen!«
»Bitte sie, dir eine Resonanz zu zeigen«, riet Bestie.
»Bestie! Du bist schlauer als drei Meister zusammen.«
»Und schneller«, sagte Bestie selbstzufrieden.
»Sati?«, rief Alissa, und die Frau zuckte zusammen und riss die Augen auf. »Zeigt mir die Pfade, die Ihr zum Sehen benutzt. Tut einfach das, was Ihr immer tut, wenn Ihr in die Zukunft blickt«, sagte Alissa. »Wenn ich nur die Bereiche verbrenne, die so anders sind, wäre der Schmerz geringer.«
»Entscheidet selbst«, sagte Sati leise. »Wer soll es sein, und welche Frage? Ich will nicht mehr dafür verantwortlich sein, welche Zukunft ich kenne.«
Alissa wich zurück. Sie wollte von niemandes Elend wissen, bevor es geschah. Lodeshs Schicksal zu kennen war schlimm genug. Der Klang eines Liedes über ein Wettrennen im Tierreich trieb klar durch die Nacht zu ihnen und brachte sie auf einen Gedanken. »Ren«, sagte sie mit fester Stimme. Ihm konnte gewiss nichts Schlimmes zustoßen. »Kennt Ihr ihn?«
Sati nickte, und ihr Blick rückte in die Ferne.
»Wird er zum Bewahrer erhoben werden?«, fragte Alissa, die darin keine Gefahr erkennen konnte.
Sati atmete langsam aus, ihr Blick wurde leer, dann schlossen sich die Lider. Die Übelkeit stieg von neuem in Alissa auf. Ihre Pfade schienen unter Schluckauf zu leiden, als sich zersprengte Stücke eines zerbrochenen Musters in ihrem Geist abzubilden versuchten. Satis Pfade glühten nur schwach, denn sie besaß keine Quelle. Dennoch sah Alissa nun deutlich, was sie verbrennen musste und was sie unberührt lassen konnte. Sati führte beinahe einen Liniensprung aus, gebrauchte aber Verbindungen, die bei Alissa nicht angelegt waren.
Alissa spürte einen Anflug von Panik, als Satis Muster begann, das ihre zu überwältigen. Ihre Gedanken wurden leicht und lösten sich los. Sie würde zwischen den Linien springen. Sie konnte es nicht aufhalten! »Bestie! Hilfe.’«, schrie sie, doch es war zu spät, und gemeinsam glitten sie hinüber in Satis Traum von der Zukunft.
»Stadtvogt!« Der hasserfüllte Schrei drang frustriert durch die kalte Morgenluft.
»Stadtvogt!« Diesmal drang es trotzig aus Rens Kehle, als er tief ausatmete und die Enge in seiner Brust dem Schrei die Kraft verlieh, sich gegen die Mauer jener Stadt zu werfen, die einst die seine gewesen war. Eine Schar Vögel auf einem Schieferdach erhob sich in die Luft und flog flatternd davon. Er war allein. Seine Armee hatte ihn verlassen. Es war ihm gleichgültig gewesen. Er hatte sie nie gebeten, ihm zu folgen; er hatte dem Schmerz jedes Einzelnen nur eine Richtung gegeben.
»Ich weiß, dass du da drin bist, Lodesh. Sprich mit mir!« Staub verlieh ihm die Farbe der Mauer. Er sank am Tor nieder und glitt zu Boden. »Das bist du mir schuldig«, stöhnte er.
Vom Wehrgang auf der Mauer waren Schritte zu hö ren, und ein blonder Kopf spähte herab. »Bei den Wö lfen, Ren? Du warst das?«
Ren lachte sarkastisch. »Du erinnerst dich an mich. Ich bin geschmeichelt.« Er holte tief Luft, fand die Kraft aufzustehen und trat zurück, stellte sich der Stadt, deren Mauer in der Morgensonne gelblich schimmerte. Er nahm den Hut ab und vollführte eine tiefe, anmutige Verbeugung. »Füttern sie euch gut da drin?«, rief er leise. »Im Tiefland wie im Hochland gibt es nichts mehr, nur noch Tod und Hunger.« Seine höhnischen Worte drangen klar durch die Luft, die endlich befreit war vom Lärm der Trommeln und marschierenden Stiefel. Selbst die Insekten waren zertreten. Nichts brach die nackte Stille außer seinen rauen Atemzügen.
»Ren«, sagte Lodesh argwöhnisch. »Warum hast du das getan?«
»Ich?« Das klang wie ein Bellen und er setzte seinen Hut wieder auf, damit Lodesh den Schmerz in seinen A ugen nicht sah. »Ich bin nicht derjenige, der sich hinter Mauern verbirgt, die dicker sind als Mavs Mörserpudding.«
Schuldbewusstes Zögern von oben. »Ich habe die Seuche des Wahnsinns nicht verursacht«, sagte Lodesh, »aber ich muss mein Volk schützen. Ich bin sein Diener. Ich habe keine Wahl.«
»Man hat immer eine Wahl!«, kreischte Ren beinahe und spürte, wie sein Kopf zu dröhnen begann. »Außer der Verstand ist einem entrissen worden, und man ist zur wilden Bestie geworden.« Trotzig blickte er
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