Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
verloren.«
Lodesh sank auf der Mauerkrone nieder. In der hellen Sonne war sein Gesicht von Entsetzen gezeichnet.
»Zuerst reduzieren sie die Population«, sagte Ren. »Dann teilen sie sie auf. Diesmal haben sie beschlossen, Hass zu benutzen, um Hochländer und Tiefländer auseinanderzuhalten. Viel sicherer«, höhnte er, »als eine geographische Barriere. Und ebenso schwer zu überwinden.«
Ren ging vor dem verschlossenen Tor auf und ab, und sein Zorn wuchs, während die Sonne wärmer schien. »Die Hochländer geben den Tiefländern die Schuld. Die Tiefländer den Hochländern. Und die Küstenbewohner«, tobte er, so dass seine Lippen Speichel versprühten, »die darauf konditioniert sind, an Magie zu glauben, werden es nicht wagen, die Berge zu überqueren, weil sie die geflügelten Dämonen fürchten, die dort hausen!« Ren blieb stehen. »Perfekt, nicht wahr?«, bemerkte er mit trügerischer Ruhe.
»Ren. Du irrst dich«, flüsterte Lodesh. »So drastisch würden sie niemals vorgehen.«
»Frag doch Redal-Stan«, unterbrach Ren ihn kalt. »Oder noch besser Talo-Toecan. Ich würde darauf wetten, dass er derjenige war, der den Bau dieser verfluchten Mauer erst vorgeschlagen hat. Zweifellos«, höhnte er, »wollte er seine kostbare Stadt nicht verlieren.«
»Talo-Toecan ist seit drei Jahren fort«, flüsterte L odesh.
»Feigling!«, schrie Ren.
»Ren«, beharrte Lodesh, »ich kann das nicht glauben.«
»Kannst du nicht – oder willst du nicht? Haben deine kostbaren Meister auch nur eine Flügelspitze gerührt oder einen Vorschlag gemacht, wie man die Krankheit bekämpfen könnte?«
»Nein.« Das war ein gedämpftes Flüstern.
Ren sah auf seine Hände hinab. »Das dachte ich mir.« Er blickte auf. » Und ich stehe hier mit Blut an meinen Händen, dem Blut jener, die sich auf meinen Schutz verließen. Nein, ich werde die Schuld hierfür nicht auf mich nehmen!« Steif hob Ren die Hände zum Himmel. »Ich nehme die Verantwortung für den Tod Kallys und unserer Kinder nicht auf mich. Hörst du mich, Stadtvogt!«, schrie er. »Ich gebe dir die Schuld, dir und allen, die sich hinter dieser Mauer aus Scham und Angst verstecken!«
Die Luft begann zu zittern, aufgewühlt von einer so tief schwingenden Macht, dass man sie nur spüren konnte.
»Ihr!«, brüllte Ren verächtlich, und ein elfenbeinheller Schimmer umgab nun seine erhobenen Fäuste. »Ihr alle sollt verflucht sein, und wenn ihr tausend Jahre leben solltet, Lodesh. Meine Qual, mein Schmerz, meine Schande sind mein Geschenk an dich, und du wirst niemals Ruhe finden, bis du dich deines Titels als würdig erweist! Hörst du mich, Stadtvogt!«, schluchzte er, als seine erhobenen Fäuste von einer Dunkelheit verschlungen wurden, die nicht einmal die Morgensonne durchdringen konnte. »Der Tod der Welt lastet auf deinen Schultern!«
Ein zorniger Schrei entrang sich seiner Kehle, und als er seinen Höhepunkt erreichte, explodierte lautlos die Finsternis um seine Fäuste. Einen Moment lang schien es, als sei die Sonne erloschen.
Dann war die Finsternis wieder verschwunden.
Ein Hahn krähte hinter der Mauer und verfiel wieder in Schweigen.
Ren sank zusammen, niedergeschmettert und leer. Er war am Ende. Als er sieh zum Gehen wandte, hob ein sanftes Grollen an. Es schaukelte sich auf und wuchs zu einem mächtigen Beben, mit dem die Erde selbst gegen den Fluch protestierte. Vom Osten her hallte der Lärm zu beiden Seiten um die Mauer herum gen Westen. Am Tor trafen die zwei Wellen zusammen, und mit einem gewaltigen Beben und Stöhnen stürzten die Torflügel ein, empört über die Macht des Bannes, mit dem Ren jene verflucht hatte, die das Tor behüten sollte.
Ren blickte sich nicht ein einziges Mal um. »Dein Glaube, keine Wahl zu haben, hat dir erst die Wahl genommen«, flüsterte er.
Mit einem beängstigenden Schnappen kehrte Alissa ins Hier und Jetzt zurück. Sie keuchte vor Grauen über das, was sie gesehen hatte. »Verbrenn sie!«, schrie Bestie. »Verbrenn die Pfade jetzt!«
Und das tat sie. Der brennende Strom heißer Energie ergoss sich in Satis Muster, das ihr die Resonanz zeigte. Das Grauen dessen, was Alissa eben erfahren hatte, wurde mit dem scharfen, reinen Fluss der Zerstörung fortgesengt. Alissa übernahm ihren Anteil an Schmerz und dann noch mehr, vervielfachte ihre eigenen Qualen, versuchte, alles in sich aufzunehmen, um Erlösung zu finden und Wiedergutmachung zu leisten für das, was sie gerade miterlebt hatte.
Es war zu viel, und als
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