Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
große Schwierigkeiten mit der Unendlichkeit hätte.
Um ihre Quelle herum, aber irgendwie in einem seltsamen Winkel dazu, breiteten sich ihre Pfade aus. Die bläulich schwarzen Kanäle verzweigten sich in alle Richtungen, kreuzten und verästelten sich zu einem Irrgarten von erstaunlichem Ausmaß und bogen sich am Rand ihres Bewusstseins wieder nach innen zurück. Da gerade so gut wie keine Energie in ihnen strömte, waren sie schwer zu erkennen. Nur die goldenen Fäden, die sich durch diese Kanäle zogen, wiesen darauf hin, dass sie überhaupt da waren. Das würde sich gleich ändern.
Alissa schob einen Gedanken in ihre Quelle hinein. Ein schimmerndes Band schoss daraus hervor und überbrückte in einem Bogen die Lücke zu ihren Pfaden. Von dort aus wand es sich in einer überkreuzten Schleife wieder zurück zur Quelle und zog so einen summenden Energiestrom durch ihren Geist. Das war der Anfang von allem. Es war ihr gleich, dass Nutzlos ihre Pfade als neuronales Netzwerk und die erste Schleife als primäre Sequenz bezeichnete. Sie wusste nur, dass man mit beidem zusammen Banne wirken konnte.
Nun war es ein Kinderspiel, die Energie in die richtigen Kanäle zu leiten. Ausgewählte Pfade leuchteten hell auf, wenn die Energie sie erfüllte, und schufen das weit verzweigte, komplizierte Muster, das erforderlich war, um ihre Seele zusammenzuhalten, während sie ihren Körper in geistige Energie auflöste und wieder in Masse verwandelte.
Sie empfand das vertraute Gefühl völliger Abtrennung, als der kühle, dunkle Garten plötzlich verschwand. Sie hatte Nutzlos bei der Verwandlung beobachtet und wusste daher, dass sie sich in einem Nebel auflöste, der sich ausdehnte, während sie Energie aus ihrer Quelle zog, um die zusätzliche Masse für ihre größere Raku-Gestalt zu gewinnen. Gleich darauf war der Garten wieder da, aber sie sah ihn nun aus einem Blickwinkel, der zwei Manneslängen höher lag als zuvor.
»Sehr schön«, brummelte Nutzlos, offenkundig erfreut darüber, wie schnell ihre Verwandlung vonstattengegangen war. Seiner Meinung nach verbrachte sie noch zu viel Zeit im Zustand eines bloßen Gedankens. »Jetzt zeig mir, wo du dich verletzt hast. Hast dir den Flügel an einer Klippe aufgeschrammt, ja?«
»Nein«, sagte sie in seinen Geist hinein, denn nun war sie zu verbaler Sprache nicht mehr fähig. Während er ihren Flügel untersuchte, kämpften widerstreitende Gefühle in ihr – sie wünschte sich Mitgefühl, wollte aber zugleich in Ruhe gelassen werden.
»Ach, Alissa«, hauchte Nutzlos, als der Riss ans Licht kam. Eine Resonanz bildete sich auf ihren Pfaden ab und blieb leuchtend bestehen, während Nutzlos einen Lichtbann wirkte. Die Leuchtkugel ruhte in seinen langen Fingern, so dass sich Knochen und Blutbahnen durch die Haut abzeichneten. »Du hättest sofort zu mir kommen müssen.«
Sie sagte nichts, denn sie fand, es sei offensichtlich, weshalb sie das nicht getan hatte.
»Wie bist du mit einem solchen Riss wieder bis hinauf zur Feste gekommen?«
Sie zuckte mit den Schultern. Sie konnte ihm nicht in die Augen sehen und wünschte nun, er wäre wütend statt mitfühlend. Etwas zu verschweigen war eigentlich auch eine Lüge.
Mit gerunzelter Stirn stand er unter ihrer Schwinge. Das Licht seiner Leuchtkugel fiel durch den Riss. Sie bog den langen Hals, steckte den Kopf unter den Flügel, um ihn sich anzusehen, und hob die Schwinge hastig aus seiner Reichweite, als er Anstalten machte, mit einem Finger an dem Riss entlangzustreichen. »Lass die Schwinge herunter«, befahl er trocken. »Ich werde sie nicht berühren.« Sie hörte ihn seufzen. »Es wäre besser gewesen, du hättest einen Heilungsbann gewirkt, ehe du dich verwandelt hast«, sagte er. »Menschliche Rückenmuskulatur heilt anders als Flügelhaut.«
»Ihr habt mir verboten, unbeaufsichtigt einen Heilungsbann zu wirken«, sagte sie. Ihr tat die Schulter weh, weil sie die Schwinge so lange ausgestreckt halten musste.
»Das stimmt.« Er trat unter ihrer Schwinge hervor, und seine von unten beleuchteten Züge wirkten scharf. »Ich nehme allerdings an, wenn du mutig genug bist, die Aufwinde dieser Felswand zu riskieren, dann bist du auch weit genug, um selbst einen Heilungsbann zu wirken.« Er verzog das Gesicht. »Leg deine Schwinge auf den Boden. Ich halte die Haut, so gut es geht, zusammen, während du den Bann darauf legst. Dennoch wirst du eine Narbe zurückbehalten. Ich vermute, die Peinlichkeit, deinen zukünftigen Schülern
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