Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
Beruf, das Handwerk, dem er sich zuwandte, wenn seine Gedanken allzu schwermütig wurden. Strells Blick huschte zu dem dunklen Klumpen auf dem nahen Trockentisch – Alissas Schuhe. Er hatte sie vor der Gartenmauer gefunden, an der Stelle, wo sie sich verwandelt und den festen Erdboden hinter sich gelassen hatte. Ihre Schuhe und er schienen in dieser Hinsicht viel gemeinsam zu haben: staubig und abgetragen, zurückgelassen, während sie neue Grenzen erprobte, die er niemals auch nur von ferne sehen würde. Morgen würde er ihr die Schuhe zurückgeben. Er würde sie gern neben seine stellen, und zwar unter sein Bett, eines Tages. Strell richtete sich auf und spürte, wie sein verspannter Rücken knackte.
Er war so besorgt gewesen, vor allem, nachdem er sie voller Blutergüsse und Kratzer in der Mitte einer neuen Lichtung gefunden hatte. Fliegen war eine Fähigkeit, die erlernt werden musste, und sie hatte erst wenige Monate Zeit gehabt, sich darin zu üben. Zum Glück sah es so aus, als sei nur ihr Stolz ernsthaft verletzt. Trotzdem hätte er sie am liebsten hochgehoben und fortgetragen, zu weichen Kissen und warmen Kompressen. Aber er wusste, dass ihr das unangenehm wäre, deshalb hatte er sich damit zufriedengegeben, nur ihre Hand zu halten. Er hätte vielleicht doch noch mehr getan, wenn nicht dieser verfluchte Vogel aufgetaucht wäre.
Seufzend trieb er das Rad mit dem Fuß an und formte eine wohlproportionierte Schüssel. Kralle oder Lodesh. Irgendjemand störte immer, so dass Strell zwar ständig frustriert und misslaunig war, es sich aber bisher nicht mit Talo-Toecan verscherzt hatte. Dass Lodesh so verdammt charismatisch war, machte es auch nicht besser. Alissa hätte unmenschlich kalt sein müssen, um Lodesh nicht zu mögen.
Grob und zornig zwang Strell die Schüssel, sich zu einer hohen Vase zu formen. Seine Bewegung war nicht geeignet, einen eleganten Übergang herzustellen, und nur der Boden blieb bestehen, während die Vase schief und krumm geriet. Lodesh brauchte nichts weiter zu tun, als zu warten, dachte Strell düster. Und Warten war genau das, was der Stadtvogt von Ese’ Nawoer tat. Weder machte er Bemerkungen zu Strells und Alissas unmöglicher Beziehung, noch ignorierte er sie ganz. Lodesh wartete ab und war es zufrieden, ihnen beiden ein Freund zu sein, denn er wusste, dass er Alissa abschrecken würde, wenn er seine überlegene Position ausspielte oder allzu forsch vorging. Die Zeit bot Lodesh die Garantie dafür, dass er Alissas Zuneigung gewinnen würde, und der verfluchte Mann schien ob dieser Gewissheit sehr ruhig zu schlafen.
Vor fast vierhundert Jahren hatte Lodesh als Stadtvogt von Ese’ Nawoer eine Mauer um seine Stadt errichten lassen. Aus Klugheit war diese Mauer erbaut worden, doch Angst hielt die Tore verschlossen, als Frauen und Kinder verzweifelt Zuflucht vor der Seuche des Wahnsinns suchten. Die Bewohner der Stadt stellten sich taub gegen jene, die vor ihren verschlossenen Toren flehten, selbst dann noch, als aus dem Flehen eine geistlose, rasende Wut wurde und Mütter ihre Kinder erschlugen, ehe sie sich selbst richteten.
Die Stadt blieb von der Seuche verschont, aber das Blut auf ihrer Schwelle wurde zu einem Fluch – die Menschen würden auch im Tod keine Ruhe finden, bis sie ihr Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesühnt hatten. Alissa hatte sie von dem Fluch befreien können, aber Lodesh, der die Mauer errichtet und die Schuld auf sich genommen hatte, blieb verdammt.
Es erschien Strell unfair, dass dieser gerissene Kerl etwas so Belastendes, Verwerfliches wie einen Fluch in einen Vorteil verwandeln konnte. Lodesh würde Alissa während ihres nun so unglaublich langen Lebens begleiten können, was Strell nicht möglich sein würde.
Strell jedoch hatte seine eigene Garantie. Alissa liebte ihn, nicht Lodesh. Strell brauchte nur ihren Lehrmeister dazu zu bringen, erneut die Regeln zu beugen. Und nachdem Strell Alissa vergangenen Winter am Leben erhalten hatte, während sie mit einem wahnsinnigen Bewahrer eingeschlossen waren, schien es ihm geradezu ein Leichtes zu sein, die Ansichten eines Rakus zu ändern.
Zwischen Strell und Lodesh hatte sich eine seltsame, von Konkurrenz geprägte Freundschaft entwickelt. Beide waren im tiefsten Herzen überzeugt davon, dass sie Alissa letzten Endes für sich gewinnen würden, und fühlten sich daher von der Gegenwart des jeweils anderen kaum bedroht. Dass Lodesh glaubte, er werde Alissa erobern, bedeutete Strell gar nichts. Er
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