Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
befürchtet hatte.
»Guten Abend, Nutzlos«, sagte sie demütig.
»Du bist heute sehr früh dran.«
»Früh?« Sie riss den Kopf hoch. »Lodesh hat behauptet, ich käme zu spät!«
Die belustigte Miene ihres Lehrmeisters wich einem ärgerlichen Ausdruck. »Dann ist es vermutlich auch so«, gab er zu und runzelte die Stirn, doch sie erkannte, dass er sich über sich selbst ärgerte, nicht über sie. Anscheinend hatte Nutzlos dieselben Schwierigkeiten wie sie, was die Zeit anging. Vielleicht, überlegte sie und stieg in die von steinernen Bänken umgebene Grube hinab, hatte das etwas mit der besonderen Art zu tun, wie ihr Geist angeordnet war.
Nutzlos beschränkte seinen Kommentar auf eine Grimasse, als er ihre Bewahrer-Gewänder bemerkte. Mit übertriebener Sorgfalt rückte er seine lange Meister-Weste zurecht. Sie hatte die Farbe reifen Weizens und reichte bis auf den Boden; Alissa fand, dass sie an ein ärmelloses Kleid erinnerte. Dass er sie mit einer schwarzen Schärpe eng um die Taille gegürtet hatte, unterstrich nur diesen Eindruck. Unter der Weste lugten eine Hose und ein Kittel mit sehr weiten Ärmeln hervor. Der Schnitt war zwar schlicht, der Stoff aber von einer Qualität, wie man sie in Alissas Heimat im Hochland nie zu sehen bekam, sehr fest und fein gewebt und ebenmäßig gefärbt.
Der Meister hatte keinen Bart und trug das Haar kurz geschoren – um zu verbergen, wie weiß es geworden war, hatte Lodesh einmal im Scherz behauptet. Er war so groß wie Strell und beinahe ebenso dunkel, und ob er saß oder stand, stets strahlte er eine gewisse Steifheit aus. Da er leicht in Wut geriet, aber fast noch schneller bereit war, einen Fehler zuzugeben, kam man bei seinen Launen oft kaum hinterher.
Obwohl er in seiner menschlichen Gestalt vor ihr saß, strahlten seine Augen in dieser unwirklichen goldenen Färbung, die für Meister charakteristisch war. Auch seine Hände konnten seine Raku-Herkunft nicht verbergen, denn sie waren ungewöhnlich lang. Seine Finger hatten vier Glieder statt nur drei. Alissa hatte sich schon längst angewöhnt, das als normal zu betrachten, doch heute Abend blieb ihr Blick an diesen Fingern hängen, als er nach der Teekanne griff. Ihre eigenen Finger sahen genauso aus wie immer. Alissa stieß den Atem aus. Nicht einmal als Meisterin passte sie so recht zu den anderen.
In den steinernen Bänken, die die Feuerstelle säumten, war noch die Wärme des Tages gespeichert, und sie setzte sich zu seiner Rechten, wobei sie froh über die Dunkelheit war, die den Kratzer an ihrem Kinn verbarg. Sie verzog gereizt das Gesicht, als sie merkte, dass sie die Becher vergessen hatte. Nutzlos sah es ebenfalls und seufzte, und mit einem Zupfen an ihrem Geist und einer aufblitzenden Resonanz auf ihren Pfaden erschienen zwei Becher, in einem abscheulichen Braun glasiert, zwischen ihnen auf der Bank. Schweigend goss er Tee ein und reichte ihr den ersten Becher. Er trank einen Schluck, zog eine Grimasse und stellte ihn wieder weg. »Lodeshs Tee?«, fragte er säuerlich.
Alissa nickte blinzelnd. »Woher wusstet Ihr das?«
»Er benutzt immer einen Bann, um das Wasser zum Kochen zu bringen. Deshalb wird der Kessel selbst nicht richtig heiß, und die Teeblätter ziehen nicht gut.«
Vorsichtig kostete sie. Sie fand an dem Tee nichts auszusetzen, aber sie war ja auch nicht über acht Jahrhunderte alt.
Alissa legte die Hände um den Becher, um sie zu wärmen, und versuchte, nicht unruhig herumzuzappeln. Sobald sie still saß, begann ihr Rücken zu schmerzen, bis hinab zum Steißbein. Offenbar stammte ein Teil der Masse, aus der sie ihre Flügel bildete, aus diesem Bereich, und sie fragte sich, auf was für einen Schaden diese Schmerzen hinweisen mochten. Nervös warf sie ihrem Lehrmeister einen Blick zu. Wie sollte sie den Riss verbergen, bis er verheilt war?
Nutzlos schüttelte gedankenversunken den Kopf und leerte seinen Becher, auch wenn es nur Lodeshs Gebräu war … Er rückte seine Weste an seiner schmalen Gestalt zurecht und zog die in Pantoffeln gehüllten Füße unter sich, um es sich im Schneidersitz auf der Bank bequem zu machen. Alissas Atem beschleunigte sich. Er war bereit, mit dem Unterricht zu beginnen.
»Heute Morgen«, begann er, »habe ich dir die Theorie hinter dem Liniensprung erklärt. Gib sie bitte wieder.«
Sie richtete sich auf und runzelte die Stirn über die Schmerzen in ihrem Rücken. Die steinerne Bank tat ihr auch nicht gut. »Die Gedanken in die Vergangenheit zu schicken
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