Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
wem. Deine Pfade sind arg mitgenommen, und bis sie wieder verheilt sind, wirst du Kopfschmerzen haben. Meine Gemächer sind mit einem Bann gegen den schlimmsten Lärm der Feste geschützt, also bleib, wo du bist. Ich werde morgen bei Sonnenuntergang zurückkehren, dann will ich mit dir sprechen. Und lass die Finger von meinen Büchern.« Der Brief war mit »Redal-Stan« unterzeichnet.
Alissa ließ das Blatt wieder auf den Tisch fallen. Es landete neben einem dünnen Buch. Sie warf einen Blick auf den Titel und runzelte die Stirn. Ihr Papa hatte ihr früher daraus vorgelesen, bevor er fortgegangen war. Es war ein Kinderbuch, das von einem zerstreuten Eichhörnchen handelte – es geriet durch sein ungezügeltes Temperament in eine Notlage nach der anderen. Nun wurde ihr klar, warum Redal-Stan sie Eichhörnchen nannte, und die Furchen auf ihrer Stirn vertieften sich.
Empört über diesen Spitznamen stand Alissa auf, um Redal-Stans Schlafgemach zu erkunden. Sie stellte fest, dass alle seine Bücher, mit Ausnahme des Bandes auf dem Nachttisch, mit Bannen verschlossen waren. Der Wandschirm mitten im Raum verbarg erstaunlicherweise einen Badezuber, und nachdem sie zu ihrem Bedauern festgestellt hatte, dass sie ihn nicht füllen konnte, schlenderte sie hinüber in sein Arbeitszimmer. Auch hier lagen alle Bücher unter Bannen. Tief in dem Durcheinander begraben fand sie ihr Buch, Die erste Wahrheit. Dieses konnte nicht mit einem Bann gegen sie geschützt sein, doch die Woge verblüffter Emotion, die von dem Buch ausging, als sie seine schützenden Banne umging, indem sie Anspruch darauf erhob, hielt sie davon ab, es aufzuschlagen.
Gefangen, dachte sie düster und setzte sich auf Redal-Stans Schreibtischplatte. Hierbleiben und mit niemandem sprechen. Sie kam sich vor, als hätte sie die Pest. Würde jemand daran denken, ihr etwas zu essen zu bringen? Nach diesem Heilungsbann hatte sie schrecklichen Hunger!
Der Wind fegte vom Balkon herein und zupfte an Redal-Stans Unterlagen, die jedoch alle sicher beschwert waren. Ein Becher mit vergessenem Tee stand auf dem höchsten Papierstapel, und sie spielte mit dem Gedanken, ihn aus purer Bosheit wegzunehmen und die Papiere davonwehen zu lassen. Ein großer, glatter Stein schützte den Stapel daneben. Diesen nahm sie in die Hand und stopfte die Papiere mit unter den Becher. Der vom Fluss rund geschmirgelte Stein fühlte sich angenehm an.
Alissa warf ihn von einer Hand in die andere. Er hatte genau die richtige Größe für einen Becher. Das würde seine Zeit brauchen, doch die hatte sie ja im Überfluss. Ihre Werkzeuge waren dreihundert und ein paar Jahre entfernt, aber sie würde eben improvisieren.
Von neuer Erwartung beflügelt, schnappte sich Alissa Redal-Stans hölzerne Schreibunterlage. Den Umhang aus dickem Leder warf sie sich über die gesunde Schulter. Als Nächstes kamen einige weitere Briefbeschwerer. Die konnte sie als Hammer benutzen. Ihr Becher würde derb und einfach sein, nicht das polierte Stück Perfektion, das sie hervorbringen könnte, wenn sie die richtigen Materialien gehabt hätte. Doch wenn sie den feinkörnigen Sand benutzte, mit dem Redal-Stan die Tinte vom Papier rubbelte, wenn er sich verschrieben hatte, konnte sie zumindest die Innenseite richtig polieren, mit Hilfe des Stößels, den sie in einem Mörser unter dem Schreibtisch gefunden hatte.
Lächelnd sammelte Alissa ihr Werkzeug ein und ging zum Bett. Ja, dachte sie. Ein Becher wäre schön. Und wenn er ihr gut gelang, konnte sie die Erinnerung an seine Herstellung sogar in ihrem Geist fixieren.
– 37 –
L odesh schlich auf Zehenspitzen zu seiner Tür. Er dämmte seinen Lichtbann und hob vorsichtig den mächtigen Riegel aus geschnitztem Eschenholz an. Mit angehaltenem Atem spähte er durch den Türspalt. Seine Eingeweide verkrampften sich, als der Mann, der den Flur bewachte, sich aufrichtete.
»Möchtet Ihr vielleicht noch einen kleinen Happen essen, ehe Ihr Euch zurückzieht, Stadtvogt?«, fragte der Mann, der die Livree der Zitadelle trug.
»Nein.« Lodesh seufzte. »Könntest du … mir sagen, wie spät es ist?«
Der Mann strahlte. »Ich würde sagen, gut zwei Stunden nach Sonnenuntergang, Stadtvogt.«
Lodesh überlegte kurz. »Du bist Krag, nicht wahr?«, und dem Mann schwoll vor Stolz die mächtige Brust. »Geh schlafen«, sagte Lodesh. »Und nicht vor meiner Tür.« Er wandte sich ab und brummte: »Wenn ich etwas zu essen möchte, werde ich es mir selbst holen.«
Krag
Weitere Kostenlose Bücher