Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
du deine Konzentration darauf.«
Das Flüstern eines Gedankens berührte Strells Geist, und er lächelte. Alissa musste in ihrer Raku-Gestalt sein, in der sie nur stumm kommunizieren konnte. Er vermochte sie nur dann zu hören, wenn sie ihre Gedanken direkt auf ihn ausrichtete. Eigentlich sollte das unmöglich sein, doch Alissa scherte sich nie darum, was als unmöglich galt.
»So ist es«, hörte er Talo-Toecans gebrummte Antwort. »Je kleiner das Muster, desto weniger Zeit verbringt man im unbewussten Zustand, während man die Erinnerung durchlebt.«
Strell blieb abrupt stehen, weil er im Dunkeln fast gegen einen tief hängenden Ast gelaufen wäre.
»Versuche jetzt, einen zu finden«, sagte Talo-Toecan. »Im Garten befinden sich zahlreiche Septhama-Punkte, vor allem hier an der Feuerstelle. Aber halte den Energiefluss unterhalb der Schwelle für den Sprung. Ich will nicht, dass du ohne mich zwischen den Linien springst.«
Strell kam um die letzte Biegung und blieb stehen. Am Fuß der hohen Festungsmauer befand sich eine kreisrunde Grube mit einer Feuerstelle, so groß, dass acht Menschen bequem darin sitzen konnten. Steinerne Bänke waren am Rand in die Erde eingelassen und vermittelten den Eindruck von Dauerhaftigkeit. Wucherndes Gebüsch, Unkraut und unordentliche Rabatten umgaben die Feuerstelle und schufen einen abgeschirmten Ort. Heute Abend saß dort ein Mann, eher älter als jünger, mit gelben Augen und scharfen, kantigen Gesichtszügen. Der Meister blickte auf, als Strell näher trat, und grüßte ihn mit einem schlichten, respektvollen Nicken.
Hinter ihm drückte seine liebliche Alissa das überwucherte Gras platt. Ihre zierliche Frauengestalt war einer schlanken, aber sehr großen, geschmeidigen Form gewichen. Das einzig Vertraute an ihr waren ihre grauen Augen, die sich weiteten, als sie seine Ankunft und seinen vernarrten Blick bemerkte. Ach ja: Flügel hatte sie auch. Große, prächtige Schwingen, die die Sonne verdunkelten, wenn sie über einen hinwegflog.
Plötzlich stand sie auf und verschwand in einem Wirbel aus perlweißem Nebel, der seinen Schimmer nicht nur dem nahen Feuer verdankte. Alissa wusste, dass ihre mächtige Gestalt ihn nervös machte und ihn an jenen schrecklichen Vormittag erinnerte, als sie ganz und gar eine Bestie gewesen war und nicht länger Alissa; sie hatte versucht, ihn zu töten.
Nutzlos beobachtete, wie Alissas geistiger Nebel herumwirbelte und sich wieder zusammenzog. »Hoffentlich denkt sie daran, sich zu bekleiden«, sagte er, und Strell grinste. Das war ein Anblick gewesen, aber niemand wusste, dass er das auch gesehen hatte.
Der Nebel, der Alissa war, wirbelte weiter um sich selbst, und Strells Lächeln erlosch. Auch Nutzlos stutzte. Sie brauchte sehr lange, um sich zu verwandeln, sogar für ihre Verhältnisse. Entsetzt beobachteten die beiden, wie der neblige Umriss verschwamm, zusammenfiel und immer weiter schrumpfte, bis er mit einem leisen »Plopp« gänzlich verschwand.
Nutzlos blinzelte in fassungslosem Schweigen, stand auf und streckte die Hand aus.
»Alissa?«, hauchte Strell. »Alissa!«, rief er erneut, und Angst schob sich eisig zwischen seine Seele und die menschliche Vernunft. Sogar der Hauch ihrer Gedanken in seinen, den er noch nie zuvor bemerkt hatte, weil er stets still und warm in seinem Geist ruhte, war verschwunden.
»Alissa!«
Und der elegant gekleidete Lodesh, der Strells Schrei selbst auf diese Entfernung vernahm, erhob sich mit leuchtenden, wissenden Augen – er wartete nicht länger.
– 6 –
S trell!, dachte Alissa, als sie ihn auf dem Pfad entdeckte. Er sollte sie nicht so sehen! Natürlich, musste sie sich eingestehen, hatte er nie direkt gesagt, dass er sie als geflügeltes Ungeheuer nicht mochte. Energie strömte kühl in die richtigen geistigen Kanäle, um ihre Existenz aufrechtzuerhalten, während sie mit der Veränderung ihrer Form begann. Bestie erwachte und beobachtete den Vorgang mit unverhohlener Langeweile. »Wozu«, fragte sie, »sind diese zusätzlichen Linien gut?«
»Zusätzliche Linien? « Verlegen bemerkte Alissa, dass sie in ihrer Hast vergessen hatte, das Muster zu schließen, das sie für den Liniensprung aufgebaut hatte. Silbrig schimmernd hob es sich vor ihrem dunklen Geist ab. Sie beließ es, wie es war, denn sie fürchtete sich davor, irgendetwas zu verändern, bevor ihr neuronales Netzwerk wieder in der Wirklichkeit angekommen und nicht mehr nur ein Gedanke war. Genau genommen, dachte sie,
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