Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
unterhalten.«
»Ja«, grummelte er. »Ein Pfahl in meinem aschebedeckten Fleisch.« Alissa atmete seufzend aus, und er gab nach. »Ja und nein.« Er warf einen Blick auf den schwarzen Umriss von Connen-Neutes Schemel; offensichtlich wollte er sich setzen, aber nicht auf den Stuhl eines Schülers, während sie in seinem Sessel saß. »Du bist noch nicht vollständig genesen. Taste dich langsam voran, Eichhörnchen. Ich würde mich noch ein paar Tage lang nicht lautlos mit den Bewahrern unterhalten. Den meisten mangelt es an Finesse.«
Sie zuckte mit den Schultern. Der einzige Bewahrer, mit dem sie sich gern lautlos unterhalten hatte, war Lodesh, und der war ebenso feinfühlig wie Connen-Neute.
Redal-Stan hatte offenbar keine Lust mehr, mit ihr zu sprechen. Ihre Unterredung von gerade eben hatte zu sehr einem Streit geähnelt, als dass sie nun in eine lockere Unterhaltung übergehen könnte. Vermutlich wartete er darauf, dass sie ging, doch sie hatte diese Oase der Stille hier oben im Turm schätzen gelernt und wollte sie nicht verlassen, trotz des unbehaglichen Schweigens. Außerdem gab es nichts, was sie nach unten lockte. Lodesh war inzwischen vermutlich in der Zitadelle eingeschlossen.
»Redal-Stan?«, fragte sie und schlang die Arme um den Oberkörper. »Wie geht es Lodesh?«
Redal-Stan ließ die Schultern hängen. Er wandte ihr den Rücken zu, stützte die Hände auf die Brüstung und blickte über die Wiesen und Felder zur Stadt hinüber. Die Lichter der Häuser waren nicht zu sehen, doch der Rauch der vielen Feuer verdunkelte dort die Sterne. »Er passt dort hinein wie eine Hand in einen Handschuh«, sagte er. »In einen fein gearbeiteten Handschuh. Einen, den er eigentlich nicht tragen will, obgleich er ihm sehr gut steht.«
Alissa schlug die Augen nieder. Redal-Stan starrte weiterhin in die Unendlichkeit. Das Licht hinter ihnen warf trügerische Schatten, doch sie glaubte, eine tiefe Traurigkeit auf dem Gesicht des alten Meisters zu erkennen, der als Junge im Tiefland aufgewachsen war. Als sie seinen Kummer über Lodeshs Unglück sah, erkannte sie, dass sie und Redal-Stan vom Schicksal dazu bestimmt waren, anders zu sein, selbst unter ihren Raku-Verwandten.
Sie mochten Meister-Gewänder tragen, die Leistungen eines Meisters vollbringen und in einer mondlosen Nacht durch den Nebel fliegen können, doch sie würden stets auch die sein, die sie zuvor gewesen waren: ein Bauernmädchen, das einsam in den Hügeln aufgewachsen war, und ein halb verhungerter Junge, der in der Wüste zu überleben versuchte. Ihre Herkunft hob sie ebenso ab wie ihre normalen Augen und Finger und ihre Neigung, sich über jede noch so geringe Aufgabe zu freuen, die sie mit ihrem hochstrukturierten neuronalen Netzwerk bewältigen konnten. Sie allein verstanden die Kurzlebigkeit des menschlichen Daseins, die Tragödie, zu Entscheidungen gezwungen zu sein, und die Kraft, die in alldem lag.
Alissa stand auf, fasste ihn am Ärmel und ließ den Tränen, die sie bisher nicht um Lodesh geweint hatte, freien Lauf. Er drehte sich um und wusste, weshalb ihre Augen feucht waren. »Sie verstehen es einfach nicht, nicht wahr?«, flüsterte sie erstickt, und er schüttelte den Kopf.
»Nein. Trotz all ihrer Weisheit begreifen Rakus nicht, welche Opfer Männer und Frauen bringen.«
Sein Arm schlang sich in einer raschen, väterlichen Geste um ihre Schultern. Dann warf er ihr einen strengen Blick zu und trat einen Schritt zurück. »Keine Tränen für Stadtvogt Lodesh«, mahnte er, und sie schluckte schwer. »Er würde es nicht verstehen. Es würde ihm nur Angst einjagen, ohne ihm zu nützen.«
Alissa lächelte kläglich zu ihm auf, und er wandte sich wieder der Stadt zu. »Die Stryska-Linie ist stark«, sagte er. »Trotz allen Kummers wird er standhalten. Er wird wundersame Dinge vollbringen.«
Alissa spürte die Kälte der Nacht auf ihren Wangen und wischte sich die Tränen weg. Sie lächelte freudlos. Ein entschlossenes Klopfen schreckte sie beide auf, und Redal-Stan drehte sich um und blinzelte. »Mav?«, fragte er. »Kommt herein.«
Mav schlurfte ins Zimmer, gefolgt von einem ängstlich dreinblickenden Connen-Neute mit einem Tablett in den langfingrigen Händen. »Danke, mein Lieber«, sagte sie. Ihr scharfer Blick huschte durch den Raum und blieb an Alissa hängen, während sie laut schniefte. »Sehr freundlich von Euch, einer alten Dame zu helfen«, fügte sie hinzu. »Ich nehme das jetzt, danke.«
Connen-Neute überließ ihr
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