Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
deinen Gedanken zu fixieren?«, fügte die alte Frau hinzu und ließ sich auf der Bettkante nieder. »Ich bin seit gestern Nachmittag fünfmal auf den Turm gestiegen, und jedes Mal hast du mich nur angeschwiegen, so tief war deine Konzentration. Ich verpasse heute die Gelegenheit, beim Abendessen die Bewahrer zu belauschen, weil ich jetzt hier bin. Also will ich wissen, ob es dir gelungen ist.«
Alissa erinnerte sich vage an hastig getrunkenen Tee und krümelndes, geröstetes Brot. Sie zog die Augenbrauen hoch, stellte ihren Becher auf die zerschrammte Unterlage und schloss die Augen. Erschaffungsbanne waren knifflig. Sie folgten alle demselben grundlegenden Muster, doch gab es zahllose Abweichungen, die sich durch die speziellen Anforderungen ergaben. Der Bann beruhte auf einer Erinnerung, und abhängig davon, wo diese Erinnerung gespeichert war, wurden unterschiedliche Pfade gebraucht. Wegen dieser Eigenartigkeiten dauerte es so lange, bis man einen neuen Erschaffungsbann beherrschte. Sich auf ein Material zu beschränken machte es leichter, aber dennoch war es mühsam und zeitaufwendig, eine neue Form zu fixieren.
Alissa atmete dreimal tief durch und ließ das Grundmuster aufleuchten, während sie sich auf ihren Becher konzentrierte. Ein Schauer der Erregung überlief sie, als sich neue Pfade hinzufügten und das Muster vergrößerten. Sie durchlebte die ganze vergangene Nacht und den heutigen Tag in einem Herzschlag noch einmal, verlieh ihrer Erinnerung Substanz, und mit einem seltsamen Zupfen an ihrem Geist verwandelte sie die Energie ihrer Quelle in Masse. Alissa riss die Augen auf. Vor ihr standen im Kerzenschein zwei Becher, wo zuvor nur einer gestanden hatte. »Ich habe es geschafft!«, rief sie aus und strahlte, als Mav befriedigt nickte.
»In der Tat, Liebes. In der Tat.« Sie war schneller als Alissa, schnappte sich den neuen Becher und blies den Staub herunter. »Und jetzt würde ich dich gern um einen Gefallen bitten.« Sie lächelte schelmisch. »Versprich mir, dass ich dabei sein darf, wenn Redal-Stan zum ersten Mal sieht, wie du das machst.«
»Redal-Stan!« Alissa griff sich vor Schreck an den staubigen Kopf. Unter Protest ihres Rückens stand sie vom Bett auf. »Er hat gesagt, er werde bei Sonnenuntergang zurückkehren. Das muss bald sein. Ich starre vor Dreck!«
»Allerdings.« Mav erhob sich ebenfalls. »Er war gestern und heute den ganzen Tag lang fort, irgendeine Angelegenheit, die wohl wichtig genug sein muss, dass ein Meister sich ihrer persönlich annimmt. Connen-Neute hat die Treppe bewacht und keinen Bewahrer oder Schüler höher hinaufgelassen als bis zum siebten Stock. Du meine liebe Ente, wie ernst dieses Kind seine Sache nimmt. Ich habe ihm gesagt, dass dir nichts fehlt, aber er wollte nicht riskieren, dass jemand deine Pfade noch schlimmer beschädigt, ehe sie sich ein, zwei Tage lang erholen konnten. Also, versprichst du es mir?«
Alissa blinzelte. Ach so. In Mavs Gegenwart einen B echer erschaffen. »Ja, natürlich«, sagte sie, denn sie fand, dass sie es nicht riskieren konnte, Mav sehen zu lassen, wie sie sich in einen Raku und wieder zurück verwandelte, um sich zu säubern.
»Ich habe dir ein Bad eingelassen, als ich letztes Mal hier war«, sagte Mav, während sie die staubigen Decken von Redal-Stans Bett zog und auf einen Haufen neben der Tür warf. »Das Wasser ist inzwischen vermutlich kalt, aber eisig sicher nicht. Redal-Stan, der alte Bär, ist der Einzige auf der Feste mit einem eigenen Badezuber. Er füllt ihn aus einem Auffangbecken auf dem Dach und leert ihn durch ein Rohr in der Wand, das bis ganz nach unten führt.«
Alissa ging steif zu dem weißen Wandschirm. Sie verzog das Gesicht über das kalte Wasser und wärmte es mit einem Bann, bis es dampfte. Mit einem letzten vorsichtigen Blick über den Rand des Schirms wand sie sich aus ihren schmutzigen Sachen und glitt in den Zuber. Ein Seufzen kam ihr über die Lippen. Das tat so gut wie ein Heilungsbann. Sie rückte ihrem Haar mit einem dicken Stück brauner Seife zu Leibe, die nach Minze roch. Sie spürte körnigen Staub unter den Fingerspitzen. Die Seife drang in jeden Kratzer und jede Abschürfung, und sie musste die Zähne zusammenbeißen.
»Gibt nichts Besseres als ein Bad, um steife Muskeln zu lockern«, sagte Mav. Ein lautes Schnappen war zu hören, als frische Laken über das Bett gebreitet wurden. »Ich bleibe noch ein wenig und schwatze mit dir«, fuhr sie fort. »Sorge dafür, dass das Gesindel
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