Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
für den Hass, der tausende von Jahren in die Vergangenheit zurückreichte. »Die Methode ist nicht narrensicher«, sagte Redal-Stan. »Es sind stets Menschen über die Berge gezogen, ohne unsere Hilfe natürlich, und sie tun es heute noch. Aber wenn ein einziges rezessives Küsten-Allel eingebracht wird, können Tiefländer und Hochländer Kinder miteinander bekommen. Nicht lange, und man ist wieder genau da, wo man angefangen hat.«
Alissa richtete sich auf und dachte über ihre eigene Geburt nach. »Bewahrer, Shaduf.«
»Ja.« Redal-Stan warf ihr einen Blick zu. »Nur allzu bald begannen wieder Bewahrer aufzutreten.«
»Und Ihr?«, flüsterte sie.
Er lächelte bitter. »Und schließlich ich. Sie haben ihr sechstes Kind sehr sorgfältig geplant.«
»Sechstes Kind?«
Mit einem Schnauben stellte Redal-Stan seinen leeren Becher auf den Schreibtisch. »Metaphorisch gesprochen natürlich. Im Gegensatz zu unseren wilden Verwandten bekommen Meister Kinder. Viele, wenn das Glück ihnen gewogen ist. Doch alle arbeiten darauf hin, die Vollendung zu erreichen – einen Transformanten. In gewisser Weise ist das dann ihr Kind.« Er deutete mit dem Finger auf sie. »Du bist die siebte. Ich bin der sechste. Mirim war die erste.«
»Oh.« Sie war also eine Transformantin, dachte Alissa, die nicht sicher war, ob ihr dieser neue Titel gefiel.
»Bewahrer sind erneut unangenehm zahlreich geworden«, murmelte er beunruhigt. »Und obgleich man sie heutzutage Beherrschung lehrt, gibt es heimliches Gerede, man solle das rezessive Küsten-Allel erneut aus den östlichen Populationen entfernen. Sie ignorieren Mirims Erinnerungen an das Grauen und die Zerstörung, die sie über die Küste gebracht haben. Ese’ Nawoer, sagen sie, ist der Ort, von dem ihre nächsten Kinder kommen werden.« Er beäugte Alissa. »Offensichtlich wird das nicht geschehen.«
Alissa schüttelte ernst den Kopf und ertappte sich dabei, dass sie an ihrem Haar herumspielte. Ein leises, zögerliches Klopfen an der Tür erinnerte sie daran, die Hände zu senken. Sie lächelte Redal-Stan steif zu und verbarg ihr Unbehagen hinter ihrem Becher, der zu ihrer Überraschung schon wieder leer war.
»Was hat es für einen Sinn, sich in die Spitze eines Turms zurückzuziehen, wenn jedermann weiß, wo man zu finden ist?«, brummelte Redal-Stan. Er holte tief Luft, und Alissa wünschte, sie könnte sich die Ohren zuhalten. »Geh weg!«, brüllte er.
»Bitte bestraft Alissa nicht«, drang Connen-Neutes leiser Gedanke zu ihnen. Er entsprach praktisch einem geistigen Flüstern, als fürchte er, noch mehr Schaden an ihren Pfaden anzurichten. »Ich sollte auf sie achtgeben. Der Verlust Satis ist meine Schuld.«
Redal-Stans nicht vorhandene Augenbrauen wölbten sich. Er neigte den Kopf schräg zur Tür, einen verschlagenen Ausdruck in den Augen. »Komm herein.«
Die Tür öffnete sich gerade so weit, dass Connen-Neutes langer Schatten hereinschlüpfen konnte. Sein Blick huschte zwischen ihr und Redal-Stan hin und her, während er sich vorsichtig auf dem Stuhl niederließ, der am weitesten vom Schreibtisch entfernt stand. »Ich nehme ihre Strafe auf mich«, erklärte Connen-Neute mit festem, entschlossenem Blick. »Wie auch immer sie aussehen mag.«
»Äh, Connen-Neute?«, begann Alissa, bekam aber einen Tritt vors Schienbein. Sie funkelte Redal-Stan böse an.
»Wie edelmütig von dir«, sagte Redal-Stan gedehnt, und Alissa wurde zornig. Niemand außer Strell hatte sich je zuvor erboten, ihre Strafe auf sich zu nehmen, und sie müsste lügen, wenn sie behaupten wollte, sie wüsste das nicht zu schätzen. »Aber sie bekommt keine Strafe.«
»Nicht?«
»Nein. Aber dein Angebot, mir dabei zu helfen, in den Aufzeichnungen nach der passenden Abstammungslinie zu suchen, die eine Shaduf als Ersatz für Sati hervorbringen könnte, ist hochwillkommen«, erklärte er.
»Ich habe nicht …« Connen-Neute zögerte und flüsterte dann mit einem Gesicht, als habe er etwas Saures verschluckt: »Selbstverständlich.«
Alissa runzelte die Stirn. »Mir erlaubt Ihr nicht, Eure Bücher zu lesen. Warum lasst Ihr sie ihn dann lesen?«
»Er lässt mich nicht«, antwortete Connen-Neute flüsternd in ihren Gedanken. »Er zwingt mich dazu.«
Redal-Stan stand auf und streckte sich. Er trat an ein Regal und zog mühsam den dicksten Band heraus. Das Buch landete mit einem dumpfen Knall auf dem Tisch, und er schlug es auf und überflog die aufgelisteten Namen. »Nur weil du nicht willst«, sagte
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