Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
wussten aber nicht, warum. Glücklicherweise lieferten all ihre Bemühungen immer nur ein klein wenig Quellenstaub. Das meiste davon muss der Wind verweht haben. Um den Quellenstaub von einem Totenfeuer einzufangen, ohne die Flammen auszulöschen, die den Staub freisetzen, braucht man ein ganz besonderes Feld.« Er ließ die Motten frei und schenkte Alissa ein dünnes Lächeln. »Nur wenige Meister einer jeden Generation machen sich die Mühe, die Konzentration zu kultivieren, die für eine solche Leistung erforderlich ist.«
Sie fühlte sich elend und sagte: »Es tut mir leid.«
Er kehrte nach drinnen zurück, ließ sich auf der Kante des Sofas nieder, stützte die Ellbogen auf die Knie und starrte zu Boden. »Es musste etwas geschehen. Mirim war damals schon eine Erwachsene, und nicht besonders angesehen, wegen ihrer menschlichen Herkunft. Ganz allein sammelte sie so viele Menschen wie möglich um sich, die dominante Küsten-Allele hatten. Die Leute vertrauten ihr; ihre Augen waren grün, ihre Finger normal, und sie kannte ihre Kultur.
Fast zweihundert Jahre lang führte sie sie über die Bergpässe nach Osten, eine Familie nach der anderen, Seele für Seele, fortgelockt von dem Versprechen, in Frieden und Freiheit zu leben, fern vom derzeitigen Tyrannen. Sie zähmten Schafe und Ziegen, lernten Respekt vor unseren wilden Verwandten und bekamen Kinder, die völlig frei von rezessiven Küsten-Allelen waren.«
Alissa rutschte unruhig herum. »Aber was hat sich dadurch verbessert?«
Er schlug die Augen nieder. »Nichts. Es ist bis heute unklar, was sie sich damals dabei gedacht hat. Was immer es gewesen sein mag, alles brach auseinander, als ein junger Meister mit Musik in die Falle gelockt und bei lebendigem Leib verbrannt wurde, um an seine Quelle zu gelangen.«
Ihr drehte es den Magen um, als sie sich vorstellte, wie Connen-Neute sich in den Flammen wand und nicht entkommen konnte.
Redal-Stan sprach zum Fußboden: »Die Meister wurden halb wahnsinnig, fielen über die Küste her und säuberten sie von dem rezessiven Merkmal, das als Tiefland-Allel bekannt wurde.«
Alissa hielt den Atem an, denn sie wollte nicht glauben, was er da sagte.
»Ja.« Sein Blick huschte zu ihr hoch und hastig wieder weg. »Jeder, der die Möglichkeit eines rezessiven Tiefland-Allels in seiner Signatur trug, wurde getötet. Ganze Familien. Die Meister wussten, dass Mirim im Tiefland eine Population hatte, in der dieses rezessive Merkmal reichlich vorkam. Es an der Küste auszulöschen würde die Möglichkeit verringern, dass an der Küste Bewahrer gezeugt wurden. Problem gelöst und Rachedurst gestillt, mit einem – einzigen – Schlag.«
Alissa starrte ihn an. »Das … das ist …«
»Ja, das war es«, gestand er mit gequältem Blick, »weshalb Mirims Erinnerungen bis heute weitergegeben werden. Eine solche Ungeheuerlichkeit darf niemals vergessen werden.«
Alissa zog die Knie bis ans Kinn und schlang die Arme darum. Kein Wunder, dass Talo-Toecan ihr so ungern von der Vergangenheit erzählte. Sie war grauenhaft. Das Schweigen dehnte sich in die Länge, doch sie glaubte nicht, dass die Geschichte schon zu Ende war.
»So blieb es vier Jahrhunderte lang, während alle wieder zu Atem kamen und ihre Toten begruben.« Redal-Stan blickte mit einem Ausdruck trauriger Hinnahme in ihr entsetztes Gesicht. »Als sie glaubten, die Situation endlich unter Kontrolle zu haben, begann sich die Population östlich der Berge spontan aufzuteilen. Mirim hatte das Gebiet mit Menschen besiedelt, die keine rezessiven Küsten-Allele aufwiesen. Es stellte sich jedoch heraus, dass das Resultat einer Verbindung eines dominanten H und T ohne mindestens ein rezessives Küsten-Allel als Mäßigung – tödlich war.«
Alissas Augen weiteten sich.
»Damit hatten sie nicht gerechnet.« Er starrte in seinen längst geleerten Becher. »Es erklärte, warum ihre Wahrscheinlichkeitsberechnungen nie ganz gestimmt hatten. Ich brauche wohl nicht zu betonen, dass sie diese Spaltung energisch förderten.«
»Die Leute im Hochland«, flüsterte Alissa, »hatten zum Großteil das stärkere H, im Tiefland das stärkere T. Wenn sie untereinander heirateten, gäbe es keine schwache Küsten-Anweisung bei ihren Kindern. Sie würden …« Sie konnte es nicht aussprechen.
»Es kommt äußerst selten vor, dass ein Kind aus einer gemischten Ehe auch nur seine Geburt erlebt«, beendete Redal-Stan ihre Ausführung. Alissa starrte ihn fassungslos an und erkannte nun den Grund
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