Alissa 3 - Die verlorene Wahrheit
gut?«, fragte er, und seine braunen Augen blickten tief in ihre.
Er hielt sie so fest gepackt, dass es ihr den Atem verschlug, und sie senkte verlegen den Blick. »Ja, mir geht es gut. Aber ich habe meine Schuhe an der Gartenmauer gelassen. Ich will sie holen, kommst du mit?«
»Asche, Alissa«, sagte er und ließ errötend ihre Schultern los. »Würdest du dich bitte beeilen und endlich lernen, welche zu machen?« Ausnahmsweise einmal waren keine Blicke auf sie gerichtet, und Strell nutzte die Gelegenheit, ihre Hand zu nehmen und ihr über die aufgewühlte Erde der Lichtung zu helfen.
»Danke.« Mit gesenktem Blick lief sie neben ihm her, absichtlich langsam, um ihren kleinen Spaziergang so lang wie möglich auszudehnen; außerdem tat ihr das Kreuz weh. Seine Hand war warm und etwas rau, denn seine Arbeit bestand darin, in den wenigen benutzten Kaminen der Feste ein Feuer zu unterhalten. Sie strich mit den Fingerspitzen seine Finger entlang und wieder zurück und spürte die Schwielen, die er in seinen beiden Berufen als Musiker und Töpfer erworben hatte. Am kleinen Finger der anderen Hand fehlte das oberste Glied, und sie wusste, dass er auf ihre rechte Seite gewechselt hatte, um das zu verbergen.
Alissa wurde es weich ums Herz. Es war albern, und sie wusste, dass es kaum von Bedeutung war, aber Strell erlaubte sich so selten, ihr seine Gefühle zu zeigen, dass die kleinste Geste ein Schatz für sie war. Es half auch nicht gerade, dass er in der steifen, arroganten Kultur der Wüste aufgewachsen war. Nutzlos würde zornig werden, wenn er herausfand, dass sie mit Strell allein im Wald gewesen war.
Man hatte ihr unmissverständlich klargemacht, dass Strell niemals die Erlaubnis erhalten würde, förmlich um sie zu werben. Der Kuhhandel, den sie geschlossen hatten, damit die Regeln gebeugt wurden und Strell auf der Feste bleiben durfte, beruhte auf der Übereinkunft, dass er in Gedanken die Finger von Alissa ließ, von seinen Händen ganz zu schweigen. Nutzlos machte kein Geheimnis aus seiner Hoffnung, dass Alissa sich im Lauf der Zeit einem Gefährten zuwenden würde, der ihrem Status als Meisterin eher angemessen war.
Und vor ihr erstreckte sich ungeheuer viel Zeit. Als Meisterin war ihre Lebensspanne nun zehnmal so lang wie die von Strell. Auch dies war ihr gleich, zumindest redete sie sich das ein.
»Spielst du mir heute Abend etwas vor?«, fragte sie, obgleich sie die Antwort bereits kannte.
»Hm-m«, seufzte er und schob ihr einen Zweig aus dem Weg, als sie den Schatten der Bäume erreichten.
Ein vertrautes Flattern ließ beide aufstöhnen. Kralle schwebte über ihnen, beschwerte sich lauthals und wartete darauf, dass Alissa ihr einen Landeplatz anbot. Das Gezwitscher des knapp amselgroßen Vogels klang vorwurfsvoll, und Alissa entzog Strell hastig und schuldbewusst ihre Hand – sonst wäre Kralles Protest gewiss in einen körperlichen Angriff übergegangen. Und obwohl es recht einfach wäre, sich des kleinen Vogels zu erwehren, könnte es doch schwierig werden, Nutzlos zu erklären, warum Strell völlig zerkratzt war.
Verärgert streckte sie dem Falken ihr Handgelenk entgegen. »Ruhig«, säuselte Alissa, hob Kralle dicht zu sich heran und versuchte, ihren Kopf zu bedecken. Kralle wollte von solchen Beruhigungsversuchen nichts wissen und hackte mit ihrem scharfen Schnabel auf Alissas Finger ein, bis sie es aufgab und sich Kralle auf die Schulter setzte. Der Vogel zeterte ununterbrochen weiter, doch zumindest wurde sein Geschimpfe allmählich zu einem leiseren, missmutigen Nörgeln.
Alissa sah Strell an und verzog das Gesicht. Lodesh hatte den Vogel vermutlich emporgeschickt, weil er wusste, dass Kralle zu ihrer Herrin fliegen würde. Strell wich widerstrebend einen Schritt zurück, denn er war offenbar zu demselben Schluss gekommen.
»Du solltest diesen Vogel endlich an eine Haube und ein Geschüh gewöhnen«, brummte er. Er hob die Hände zum Mund, formte einen Trichter und blickte in die Richtung, aus der Kralle gekommen war. »Lodesh!«, rief er, ehe der Bewahrer sie hier fand und womöglich erriet, dass sie ihn hereingelegt hatten. »Sie ist hier drüben!«
»Geht es ihr gut?«, ertönte Lodeshs klare, deutliche Antwort.
»Mir fehlt nichts«, sagte sie, als Lodeshs Umriss in Sicht kam, und sie unterdrückte ihr schlechtes Gewissen, weil sie seinen stummen Ruf vorhin nicht beantwortet hatte.
»Bist du sicher?«, fragte er, sobald er sie unter lautem Rascheln und Knacken erreicht hatte. Sein
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