Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
vorn, als genieße er den Wind. Weit unten lag die Albatros in der Lagune, wo sie sie zurückgelassen hatten. Alissa fragte sich, wie es Hayden und dem Kapitän gehen mochte.
Zur anderen Seite hin lag das Dorf, unsichtbar unter dem Blätterdach der Euthymien. Ein schwaches Rauchfähnchen zeigte an, wo sich die Hütte befand. Der Länge der Schatten nach zu schließen, war es fast Mittag. Und wenn Alissa ehrlich zu sich selbst gewesen wäre, hätte sie sich eingestehen müssen, dass sie zu viel Angst hatte, um wieder hinunterzusteigen.
Sie hatte sich Keribdis widersetzt.
Alissa stieß bekümmert den Atem aus. Heute Morgen hatte sie sich eingeredet, es sei Trotz. Jetzt fragte sie sich, ob sie nicht vielleicht doch aus Angst so gehandelt hatte. Sich auf Sillas Klippe zu setzen, hatte vorhin nach einer großartigen Idee ausgesehen. Die Luft war kühl gewesen, beinahe feucht genug für Nebel, während sie mühsam hinaufgestiegen war. Gedanklich hatte sie gekocht vor Zorn und Auflehnung, und ihre Schritte waren lang, ihr Entschluss fest gewesen. Wie konnte Keribdis es wagen, ihr eine Schärpe zu geben! Sie war Nutzlos’ Schülerin. Soweit Alissa wusste, lag die Schärpe noch da, wo sie ihr vor die Füße gefallen war. Doch mit der sengenden Sonne auf den Schultern und laut knurrendem Magen war Alissas Aufstand zu besorgter Asche herabgebrannt. Sie konnte nicht einfach dort unten erscheinen, als hätte sie die Unterrichtsstunde vergessen.
Ein leises Scharren auf dem Pfad hinter ihr ließ sie herumfahren. Sie sandte einen verängstigten Gedanken aus und traf auf Silla. Erleichtert sank sie in sich zusammen. »Hallo, Silla«, sagte sie, als die in Violett gekleidete junge Frau schnaufend die letzten Schritte hinter sich brachte.
Silla lächelte Alissa schüchtern zu und stellte sich ganz vorn an den Rand. Der Wind zerrte an den Bändern in ihrem Haar und an ihrem Rocksaum, und sie gab ein prachtvolles Bild ab. Alissa spürte einen säuerlichen Stich der Unsicherheit. Sie würde nie so schön sein.
»Liebst du ihn wirklich?«, fragte Silla leise, als versuche sie, das zu verstehen. »Einen Gemeinen?«
»Ich dachte, ich sei selbst eine Gemeine, als ich ihm begegnet bin«, sagte Alissa, die diese Frage überraschend fand.
Silla zuckte leicht mit den dünnen Schultern. Offensichtlich verstand sie es nicht. Doch es lag kein Abscheu in ihren Augen, und damit war Alissa zufrieden. »Ist Keribdis böse?«, fragte Alissa.
Silla zog ironisch die Augenbrauen hoch. »Das könnte man sagen.«
Alissa runzelte die Stirn und fragte sich, ob ihr Trotz die unausweichlichen Konsequenzen wert war.
»Sie hat es an mir ausgelassen«, fügte Silla ein wenig gekränkt hinzu.
»Das tut mir leid«, sagte Alissa entsetzt.
»Sie hat mich den ganzen Vormittag lang Banne aus dem ersten Jahrzehnt machen lassen.« Silla blickte an der steilen Klippe hinab. »Ich habe Felder so satt, dass ich Nägel kauen und Rost speien könnte.«
Alissa verzog das Gesicht. »Tut mir leid.«
Silla wandte sich ihr mit einem breiten Lächeln zu. »Das muss es nicht. Niemand konnte dich finden. Keribdis hat wahrlich kein Blatt vor den Mund genommen. So habe ich immerhin erfahren, dass es möglich ist, sich von einer mentalen Suche abzuschirmen.« Sie grinste. »Ich habe heute also einen neuen Bann gelernt, dank dir.«
»Und woher wusstest du, wo ich bin?«, fragte Alissa, setzte Kralle auf den Felsen und schob sich das Haar aus dem Gesicht.
Silla senkte den Blick. Sie nahm ein Band nach dem anderen aus ihrem Haar und band sich alle ums Handgelenk, damit sie nicht davongeweht wurden. »Connen-Neute hat es mir gesagt«, erklärte sie leise.
Alissa erstarrte in plötzlicher Angst, bis ihr wieder einfiel, dass Connen-Neute sie immer finden konnte, ob sie sich mit einem Bann abschirmte oder nicht. »Wir können uns nicht voreinander abschirmen, weil ich ihn einmal huckepack genommen habe«, sagte sie. »Ich kann mich nicht vor ihm verstecken und er sich nicht vor mir. Jetzt bin ich nicht mehr so sicher, ob mir das gefällt.«
Silla stieß einen Laut der Überraschung aus. »Genau das hat er auch gesagt.« Sie löste das letzte Band und schüttelte den Kopf, so dass der Wind ihr üppiges schwarzes Haar erfasste und hinter ihr hochflattern ließ. Mit dem grauen Band, das sie noch in der Hand hielt, fasste sie ihr Haar zusammen. Sie sah beinahe verlegen aus, als sie sich neben Alissa setzte.
»Wie war das?«, fragte sie und kniff gegen die grelle Sonne die Augen
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