Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
heiß.
»Ist es«, beharrte Yar-Taw, und Alissa erstarrte, als Keribdis ein Schimpfwort brummte. »Das ist eine Schwärmerei«, fuhr er fort. »Das ist nicht Liebe. Liebe stellt sich nicht in einem einzigen Winter ein.«
Alissa biss die Zähne zusammen. »Tut sie doch, wenn man glaubt, dass man den Frühling nicht mehr erleben wird.«
Yar-Taw legte seine andere Hand auf ihre zweite Schulter. Sie empfand die Seltsamkeit dieser Finger zum ersten Mal als unangenehm und schüttelte sie ab. Sie rückte näher an Strell heran. Die anderen ignorierten ihn, als sei er nur ein Symptom des eigentlichen Problems. Das machte sie rasend.
Das Stimmengewirr der Meister verebbte. Keribdis ließ den Blick über die Menge schweifen. »Sie darf sich nicht mit ihm vereinigen«, sagte sie barsch und abgehackt. »Er ist kein Meister. Bei den Wölfen, er ist kaum ein Gemeiner. Nichts ist je aus der Hirdun-Linie hervorgegangen. Nichts wird je aus ihr hervorgehen.«
Ein empörter Aufschrei entschlüpfte Alissa. Kralle spürte ihre Wut und begann zu fauchen.
Neugwin trat näher. Die mütterliche Frau warf Kralle einen nervösen Blick zu, dann nahm sie Alissas Hände. »Alissa, Liebes«, sagte sie, und Alissa war bereits beleidigt. »Alle Kinder sind kostbar. Aber ein Kind zu haben, das nicht auf dem Wind reiten kann? Das immer zurückbleiben muss? Dem so viel fehlt? Gib uns ein paar Jahrhunderte, und wir finden den passenden Gefährten für dich. Du musst lernen, geduldig zu sein.«
Alissa entzog ihr ihre Hände. Sie holte tief Atem, um zumindest den Anschein von Ruhe zu bewahren. »Ich bitte euch nicht um Erlaubnis«, sagte sie. »Strell besitzt einen Gunstbeweis meiner Mutter. Wir haben Talo-Toecans Bedingungen erfüllt. Wir haben unsere Hälfte der Abmachung eingehalten.«
Bei dem Wort »Abmachung« stöhnten mehrere Meister laut auf. »Unabhängig von irgendwelchen Abmachungen«, stellte Keribdis fest, »bist du offiziell noch nicht einmal erwachsen. Rechtlich gesehen bist du ein Kind. Genau wie Silla.« Die Frau entspannte sich in gelassener Befriedigung. »Du wirst niemanden heiraten«, sagte sie leise und drohend. »Sei morgen früh am Strand – Schülerin.«
Die versammelten Meister seufzten erleichtert auf. Die überwältigende Empörung schlug in augenblickliches Einverständnis um: noch ein Kind, Diskussion beendet, Zeit zum Abendessen.
Alissa zögerte. Keribdis nannte sie ein Kind, und damit war die Sache erledigt? Sie warf erst Connen-Neute, dann Yar-Taw einen fragenden Blick zu. »Was meint sie damit?«, fragte sie, während sich die Meister zerstreuten.
Yar-Taws Schweigen regte Alissa nur noch mehr auf. Sie blickte der schwindenden Menge mit großen Augen nach. Kralle gurrte besänftigend, als die Anspannung unter dem großen Schutzdach nachließ. Ein erster Anflug von Panik durchlief Alissa. »Was meint sie damit, ich sei offiziell noch nicht erwachsen?«
Connen-Neute schlug die Augen nieder. »Meister bekommen bei der Geburt nur einen verbalen Namen«, sagte er leise und kam näher. »Ein geschriebenes Wort, das ihren Namen symbolisiert, erhalten sie erst später. Man meißelt ihn in die Zisterne ein, um ihn offiziell zu machen. Danach wäscht man symbolisch sein altes Leben in der Zisterne ab und fliegt dann aus der Öffnung zum Zwinger hinaus, als Erwachsener.«
Sie wirbelte zu Yar-Taw herum. »Das habe ich getan.«
Der Meister runzelte die Brauen. »Alissa …«, sagte er warnend.
»Das habe ich getan!«, beharrte sie und ignorierte die ungläubigen Proteste der Umstehenden. Die Meister, die sich bereits abgewandt hatten, hielten inne. »Als ich im Zwinger gefangen saß, habe ich einen Namen in die Mauer der Zisterne geritzt«, sagte sie atemlos. Es war das Wort für »nutzlos« gewesen, doch wenn sie dafür Strell heiraten konnte, würde sie damit leben, dass dieses Wort fortan sie bezeichnete.
Glücklich wandte Alissa sich zu Lodesh um. Ihre freudige Erregung verrauchte, als er unter seinem Hut hervor ihrem Blick begegnete. »Und ich bin hineingefallen«, erklärte sie zögerlich. »Und um aus dem Zwinger hinauszukommen, bin ich nicht den Tunnel hochgekrochen, sondern auf Schwingen hinausgeflogen.« Das waren Nutzlos’ Schwingen gewesen, aber geflogen war sie. »Fragt Lodesh«, sagte sie, doch ihre Stimme klang auf einmal schwach. »Er war dabei«, fügte sie zittrig hinzu.
Aller Augen waren auf Lodesh gerichtet. Alle Gedanken schwiegen still.
Lodesh sah sie ausdruckslos an. Ihr Herz verkrampfte sich.
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