Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
Vorschlag hin brachte Bestie sie zurück zur Klippe und landete. Mit einem lauten Schnappen zog sie die langen Schwingen eng an den Körper. Sie konnte in Raku-Gesichtern noch nicht so gut lesen, aber an Sillas Stelle wäre sie deprimiert gewesen. »Fangen wir ganz von vorn an«, sagte Alissa. »Öffne die Schwingen.«
Silla tat es, so zögerlich und ungeschickt wie ein Jungvogel, der auf dem Rand des Nestes balanciert.
»Sag ihr, sie soll den Rücken krümmen«, verlangte Bestie.
»Krümm den Rücken ein wenig mehr«, gab Alissa weiter.
» Und die Flügelspitzen nach vorn.«
Alissa meinte, es würde reichlich mühsam werden, alles so weiterzusagen, und breitete selbst die Schwingen aus. »So«, sagte sie und machte es vor. Silla ahmte sie nach und schien eine Art nervösen Mut zu fassen.
»Jetzt beug dich vor«, sagte Bestie. »Und schließe die Augen, damit du den Wind schmecken kannst.«
Silla tat es, und Alissa erstarrte. Bestie hatte direkt zu Silla gesprochen, doch der junge Raku schien den Unterschied nicht bemerkt zu haben.
»Der Wind ist eine ebenso starke Kraft wie der Boden unter deinen Füßen«, sagte Bestie, und Alissa wusste, dass Silla sie ebenfalls hörte. »Du kannst ihn sehen. Du kannst ihn spüren. Er wird dich nicht fallen lassen, außer, du sperrst dich dagegen. Lass ihn über deine Schwingen streichen, und er wird dich niemals fallen lassen.«
Sillas Atemzüge waren langsam und tief.
»Lass ihn dich hochheben«, sagte Bestie. »Der Wind ist das Einzige, dem du vollkommen vertrauen kannst.«
Sillas Lippen kräuselten sich. Mit gebleckten Zähnen beugte sie sich vor. Alissa hielt den Atem an, als Silla sich von der Klippe in die Luft erhob und dabei kaum die Schwingen bewegte. Alissa folgte ihr hastig und jubelte über Sillas Erfolg. »Du hast es geschafft!«, schrie Alissa, und Silla wackelte heftig.
»Sprich jetzt nicht mit mir!«, rief der junge Raku, und seine Gedanken waren von Aufregung erfüllt. »Nicht reden! Ich kann nicht zuhören!«
Der Wind an Alissas Zähnen fühlte sich kalt an, als sie grinste. Langsam, in einem sanften Gleitflug, holte sie Silla ein. Es fühlte sich gut an, zur Abwechslung einmal jemandem zu helfen, statt Ärger zu machen. »Siehst du den Aufwind, der am Strand entlang emporströmt?«, sagte sie und sah lächelnd zu, wie Silla rasch zu ihr aufschaute und dann gleich wieder nach unten. »Reiten wir darauf einmal um die Insel herum. Wir können am Strand vor dem Dorf landen.«
»Also gut.«
»Sieh nur zu, wie ich das mache«, riet Alissa ermunternd, und Bestie neigte sie in einen Gleitflug, der sie so zum Strand bringen würde, dass sie möglichst wenig warme Aufwinde aus dem erhitzten Wald bewältigen mussten. Alissas erste Woge von Stolz auf Silla verebbte langsam und wich einer Wolke von Selbstmitleid. Silla war eine bessere Fliegerin als sie. Zumindest war Silla ehrlich und lernte es tatsächlich selbst.
»Du wirst auch lernen, zu fliegen, sobald du dem Wind vertraust«, tröstete Bestie sie. »Ich verstehe gar nicht, warum du ihm nicht traust. Er wird dich nie betrügen. Er ist so einfach und offensichtlich.«
»Ja«, entgegnete Alissa mit einem säuerlichen Gedanken. »So offensichtlich wie die Liebe. Dem Wind zu vertrauen, liegt nicht in meiner Natur, Bestie. Ich kann es nicht.«
»Ich glaube, in Sillas Natur liegt es auch nicht«, sagte Bestie mit einem warnenden Unterton.
Alissa spürte, wie sich ihr Gewicht verlagerte, als Bestie sie in den Aufwind über dem Strand neigte. Silla war unmittelbar neben ihr und tat es ihr genau gleich. Sie hielt ihre Schwingen zu verkrampft, schaffte es aber trotzdem. Gemeinsam folgten sie dem Strand, und die Luft war schwer von Salz. »Wie meinst du das, Bestie?«, fragte sie. Bestie blieb verdächtig schweigsam, und die Wahrheit traf Alissa wie ein kalter Schlag aus der Dunkelheit. Silla hatte ihr wildes Bewusstsein behalten. Deshalb konnte keine von ihnen richtig fliegen. Und deshalb war Silla die Einzige, die Alissa um die halbe Welt herum erreichen konnte.
Auf einmal war die Sonne nicht mehr heiß genug, um Alissa zu wärmen. Silla wusste es nicht. Wenn sie auf Klippen und benachbarten Inseln aufwachte, konnte das nur bedeuten, dass ihr wildes Bewusstsein spontan die Kontrolle übernahm, nachts, wenn Silla schlief. Aber warum war sie dann nicht vollständig verwildert?
»Kein Meister zerstört sein wildes Selbst bei der ersten Verwandlung«, dachte Bestie, und Alissas Herz begann zu pochen. »Sie
Weitere Kostenlose Bücher