Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
musterte sie mit ihren menschlichen Augen, weil sie Sillas Größe so besser einschätzen konnte.
Silla war als Raku sehr schlank, beinahe mager. Ihr Schwanz war bei weitem nicht so lang wie Alissas, aber ihre Haut hatte einen Perlmuttschimmer, der Alissa fehlte. Ihre Schwingen waren makellos, ohne einen einzigen Kratzer, und Alissa schämte sich jetzt schon für die hässliche Narbe an ihrem Flügel. Die Sonne schien durch die ledrigen Spannen und tauchte Alissa in goldenen Schatten. Silla schüttelte die Schwingen im Wind und zog sie dann ordentlich gefaltet an den Körper.
Alissa spähte zu ihr empor und dachte, dass sie die armlangen Zähne beinahe vergessen könnte, und die Klauen, so gewaltig wie das Steuerrad eines Schiffes. Kralle stieß ihren Ruf aus und stürzte sich vom Felsen. Das riss Alissa aus ihren Gedanken, und sie verwandelte sich.
Genießerisch schloss sie die Augen, als der Wind von einem Ärgernis zu einem willkommenen Gefährten wurde. Der Boden schien unter ihren Füßen zu beben, und sie erkannte, dass das dröhnende Grollen, das sie nun hörte, von der Brandung stammte, die sich unten an den Strand warf. Sie öffnete die Augen, und der Himmel wartete nur auf sie. Dunklere blaue Wirbel und ein Hauch Violett hier und da zeigten ihr die Aufwinde.
»Was ist mit deiner Schwinge geschehen?«, fragte Silla entsetzt in ihre Gedanken hinein, und Alissa fuhr zusammen. Sie hatte ganz vergessen, dass sie nicht allein war.
»Äh, ich bin gegen einen Baum geprallt«, sagte sie. Ihr ganzer Körper färbte sich rosa, als sie errötete, doch sie wollte ihre Narben nicht auf irgendetwas anderes als die Wahrheit schieben. Alissa hob Redal-Stans herabgefallene Uhr auf. Sie passte haargenau über den Fingerknöchel, den Bailic ihr gebrochen hatte. Sie öffnete rüttelnd die Schwingen, überließ Bestie die Kontrolle und hob vom Rand der Klippe ab, als trete sie in die Luft.
»Bein und Asche«, stöhnte Alissa genüsslich in Besties Gedanken. »Es ist zu lange her, seit wir zuletzt geflogen sind.«
Bestie sagte nichts und verzichtete auch auf ihre üblichen Rollen und Sturzflug-Einlagen. Sie glitt nur dahin und aalte sich im Gefühl des Windes an ihrer Haut. Vielleicht, dachte Alissa, sollte sie jeden Morgen fliegen, damit Bestie ein wenig Zeit bekam, sie selbst zu sein.
»Zu gütig von dir«, bemerkte Bestie trocken, und Alissa wand sich innerlich.
»Wo ist Silla?«, fragte Alissa, und Bestie flog eine elegante Kurve. Alissa blinzelte überrascht, als sie Silla auf der Klippe stehen sah, die Schwingen verkrampft und nur halb geöffnet.
»Sie kann nicht fliegen«, sagte Bestie. »Sieh sie dir nur an. Sie hält die Schwingen falsch für das Steigen im Aufwind, und sie sammelt ihre Kraft nicht in den Hinterbeinen, um sich richtig abzustoßen.«
»Sie lernt es doch gerade erst«, mahnte Alissa.
»So lernt sie gar nichts«, erwiderte Bestie. »Nicht, wenn sie so auf einer Klippe hockt.«
»Was soll ich ihr denn sagen? Was soll sie tun?«, dachte Alissa und ließ ihre gedankliche Stimme bewusst ein wenig gereizt klingen.
»Das, was ich auch dir gesagt habe. Wölbe die Schwingen um die Luft, und lass dich von ihr hochtragen«, antwortete Bestie trocken.
Alissa blinzelte und dachte bei sich, das sei ein wenig so, als wollten die Lahmen die Blinden führen. Kralle stieß aus der Höhe herab und kreischte angriffslustig, um Alissa zum Fangenspiel herauszufordern. Bestie drehte sich beiläufig in der Luft auf den Rücken und fing den verblüfften Vogel mit sanftem Griff. Kralles Kreischen brach mit einem erschrockenen Piepsen ab. Auch Alissa war überrascht – nicht, weil sie sie gefangen hatte, sondern von der Lässigkeit, mit der Bestie das gemacht hatte.
»Flieg woanders herum, wenn du uns nicht helfen willst«, dachte Bestie, drehte sich wieder richtig herum und ließ den zerzausten Vogel los. Kralle fiel einen Herzschlag lang wie ein Stein, fand dann ihren Wind und stieg noch höher als zuvor. Alissa wandte sich wieder der Klippe zu.
»Du fliegst sogar noch besser als Keribdis, möchte ich wetten«, dachte Silla, deren sehnsüchtiger Tonfall unverkennbar war. »Das werde ich nie können.«
»Aber natürlich«, erwiderte Alissa aufmunternd.
»Ich kann nicht einmal gleiten«, jammerte Silla. »Ich bringe es einfach nicht fertig, ich meine …«
»Dem Wind zu vertrauen?«, sagte Alissa und bekam es beinahe mit der Angst zu tun, als der junge Raku nickte; das hörte sich bekannt an. Auf Alissas
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