Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
zusammen. »Connen-Neutes Gedanken so nah an deinen zu haben, dass sie sich miteinander vermengen konnten?«
Alissa lächelte, als sie das aufrichtige Interesse in Sillas Stimme hörte. »Anfangs war es beängstigend. Ich habe ihm beinahe die Pfade zu Schlacke verbrannt, ehe ich mich im Griff hatte. Ich hatte noch nie jemanden so weit in meinen Geist hereingelassen.
Es ist ein Schock, es fühlt sich an wie ein Angriff, aber wenn man Vertrauen hat, wird es leichter.«
»Hattest du denn keine Angst davor, dass er alle deine Gedanken sehen würde, all die Geheimnisse, die du noch nie jemandem erzählt hast?«
Alissa lächelte freudlos. »Doch, aber ich hatte keine Ahnung, welches Risiko damit einhergeht, bis ich es tatsächlich getan hatte. Ich war blauäugig, und es war dumm, das zu tun. Jetzt würde ich niemanden mehr huckepack nehmen. Niemanden außer Connen-Neute, meine ich.« Sie schüttelte den Kopf und lächelte in sich hinein. »Strell vielleicht, wenn das möglich wäre.«
Silla schauderte. »Ich könnte das nicht.«
Alissa wandte sich wieder der Aussicht zu und dachte bei sich, dass sich das eines Tages ändern könnte. Vertrauen war zwar nicht dasselbe wie Liebe, aber Liebe konnte es ohne Vertrauen nicht geben. Sie starrte auf die Wellen dort unten, ohne sie wirklich zu sehen. Vielleicht war Vertrauen auch so etwas wie vollkommenes Verständnis. Sie konnte nicht fliegen, weil sie nicht den Mut fand, dem Wind zu vertrauen. Nach demselben Muster konnte Bestie Strell nicht vertrauen und ihm nicht einmal einen Kuss erlauben. Lag das daran, dass Bestie unfähig war, die Liebe zu begreifen? Alissa seufzte. Wie sollte sie Bestie lehren, etwas so Grundsätzliches zu verstehen?
»Ich wünschte, ich könnte richtig fliegen«, überlegte Silla laut. Sie rappelte sich hoch, schloss die Augen und breitete im Stehen weit die Arme aus, als seien sie Flügel.
»Du hast mir doch erzählt, du könntest fliegen«, sagte Alissa.
»Kann ich auch«, erwiderte Silla lachend. »Im Schlaf. Ich fliege wirklich im Schlaf. Ab und zu wache ich auf einer Klippe oder auf einer der Nachbarinseln auf. Keribdis sagt, das sei in Ordnung. Dass ich mir keine Sorgen machen sollte. Dass ich da herauswachsen würde, wie, äh …« Sie errötete. »Wie ein Kind aus der Angst vor der Dunkelheit. Ich kann es nur noch nicht besonders gut.« Sie erschauerte. »Ich mag Aufwinde nicht.«
»Ich auch nicht«, sagte Alissa, die sich freute, endlich jemanden gefunden zu haben, der das verstand.
»Du kannst fliegen.« Silla klang verletzt, als glaube sie, Alissa habe sie belogen, damit sie sich besser fühlte. »Connen-Neute hat mir erzählt, dass er sich den Fuß gebrochen hat, als er dich durch einen Wasserfall gejagt hat. Das nenne ich fliegen!«
»Er hat sich den Fuß nicht –« Alissa schluckte die restlichen Worte herunter. Wenn Connen-Neute nicht zugeben konnte, dass er sich den Fuß gebrochen hatte, als er über den Rand einer Klippe gestolpert war, dann wäre es nicht fein von Alissa, Silla darauf hinzuweisen. »Möchtest du üben?«, schlug Alissa unvermittelt vor. »Das Fliegen, meine ich? Der Wind ist perfekt.«
»Was, jetzt?« Silla drehte sich um, die goldenen Augen weit aufgerissen und die Arme fest um ihre Mitte geschlungen.
»Bestie? Wie wäre es mit einer Flugstunde?«, fragte Alissa, und ein Schauer überlief sie. Ein Grinsen breitete sich auf Alissas Gesicht aus, hervorgerufen von Besties gieriger Begeisterung.
»Ja«, flüsterte Bestie. »Ich hätte gern eine Spielgefährtin.«
»Warum nicht?« Alissa nahm das Band mit den Glöckchen ab, trat an den Rand und starrte hinunter. »Ich kann nicht ewig hier oben bleiben. Ich habe Hunger.«
Silla trat nervös zappelnd neben sie. »Ich wollte schon immer von hier abspringen. Für gewöhnlich hebe ich ab, indem ich am Strand entlangrenne und den Aufwind der ablandigen Brise nutze.«
»Wie ein Albatros?«, fragte Alissa entsetzt und verzog dann das Gesicht, als Silla errötete.
»Fliegen wir«, forderte Bestie. »Du verschwendest mit deinem schwatzenden Mund gute Aufwinde.«
Silla blickte wieder über den Rand. »Ich weiß nicht. Keribdis und Yar-Taw haben versucht, es mir beizubringen, aber ich soll nicht allein fliegen.«
»Bist du denn allein?«
Silla dachte darüber nach und lächelte. »Also schön«, erklärte sie mit plötzlicher Entschlossenheit.
Aufregung erfasste Alissa, als Silla in einem weißen Nebel verschwand und zu ihrer natürlichen Gestalt anwuchs. Alissa
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