Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
seiner Hand unangenehm bewusst. Er schaute rasch zu Lodesh hinüber. Der Bewahrer machte ein grimmiges Gesicht.
»Eins – zwei – drei«, sagte Yar-Taw langsam, und Strell tat es.
Seine Hand klatschte mit einem schockierenden Geräusch auf Alissas Wange. »Alissa!«, rief er und starrte auf den hässlichen Handabdruck auf ihrer Wange. »Oh, bei den Wölfen, es tut mir leid«, sagte er und beugte sich dicht zu ihr hinab. »Alissa?« Ihm stockte der Atem, als sie die Augen aufriss. Sie waren voller Entsetzen, aber blicklos.
»Weg!«, kreischte sie, und der Laut jagte ihm Angst ein. »Sie ist weg!«, schrie sie erneut. Sie schlug mit der gesunden Hand um sich, als Strell versuchte, sie in die Arme zu nehmen. Sie krümmte sich zusammen, wiegte sich vor und zurück und drückte ihre gebrochene Hand so fest an sich, dass es wehtun musste. Strell wich erschrocken zurück.
»Was tust du da – Bewahrer?«, war eine kalte, tiefe Stimme zu hören, und Strells Blick schoss zu Connen-Neute, der Lodeshs ausgestreckten Arm brutal umklammert hielt. Der Schlag war nicht zu Ende geführt worden.
»Äh, nichts«, sagte der Bewahrer, drei Schattierungen weißer als sonst. »Kann ich meine Hand wiederhaben?«
Yar-Taw starrte voller Ekel und Angst auf Alissa. »Silla«, zischte er und winkte sie zu sich. »Komm her. Du solltest das nicht sehen.«
Strell wirbelte zu Alissa herum, die heftig zu schluchzen begann. Er streckte die Hand nach ihr aus, doch Talo-Toecan hielt ihn zurück. »Lass uns einen Augenblick allein, Pfeifer«, keuchte Talo-Toecan, in dessen Stimme müde Resignation lag. Er warf Silla einen Blick zu. »Nimm Silla mit hinaus«, fügte er hinzu. »Das hier könnte eine Weile dauern, und Alissa wird vermutlich jeden hassen, der sie so sieht.«
»Ich – ich will bleiben«, widersprach Strell, der entsetzt darüber war, wie müde der alte Meister auf einmal aussah. Irgendetwas war während dieser drei Herzschläge geschehen. Etwas, das er nie begreifen würde.
»Geh«, sagte er und winkte ihn hinaus. »Ihr alle. Sucht ihr etwas zu essen. Und holt Wasser. Viel Wasser. Asche, ich bin so durstig.«
»Wasser, natürlich«, sagte Strell und streckte die Hand aus, um Silla aufzuhelfen. Die junge Frau sah aus wie vor den Kopf geschlagen und erhob sich bereitwillig, als Yar-Taw ebenfalls den Arm nach ihr ausstreckte. Dabei warf sie verängstigte Blicke auf Alissa, die sich zusammengekrümmt vor und zurück wiegte.
Connen-Neute stöhnte vor Schmerz, als er aufstand. Sein langes Gesicht war qualvoll verzerrt, als er sich zwang, nach vier Tagen zum ersten Mal Arme und Beine zu bewegen. Er stützte sich schwer auf Lodesh und Neugwin und nickte Talo-Toecan verschwörerisch zu, ehe er nach draußen humpelte. Neugwins Blick war entrückt, und vermutlich benachrichtigte sie jemanden im Dorf, damit alles vorbereitet wurde.
Essen, dachte Strell, der unbedingt etwas für Alissa tun wollte. Er konnte ihr zu essen bringen. Er kannte Alissa besser als alle anderen zusammen. Wenn irgendjemand für sie einen Grund finden konnte weiterzuleben, dann war er das. Und mit Essen würde er anfangen.
– 37 –
D as Feuer war klein. Es war beinahe erloschen und verlor zusehends den Kampf, die Nacht zurückzuhalten. Alissas Hand pochte unter Nutzlos’ schmerzdämpfendem Bann. Vor ihr lag Kralle auf einem schwarzen Tuch. Dunkle Flecken auf ihrem Gefieder zeigten, wo Alissas Tränen gefallen waren. »Es tut mir leid, Nutzlos«, flüsterte Alissa, wie betäubt und starr vor Apathie. »Ich hätte Keribdis ihren Willen lassen sollen. Jetzt kann ich mich nicht verwandeln. Ich kann nicht …« Sie zwang die Worte aus ihrem Mund und sagte sich immer wieder, dass sie nichts fühlte. »Ich bin wertlos. Ich …« Es schnürte ihr die Kehle zu, und ihr Körper widersetzte sich ihrem Willen.
Nutzlos saß, an derselben Stelle wie schon seit dem Mittag, neben ihr auf einem seiner klumpigen Kissen im Sand. Strells Teller voller Köstlichkeiten stand unberührt neben ihm. »Ich hätte dich nicht allein hier herauskommen lassen dürfen«, sagte er, mehr zu sich selbst denn zu ihr. Die Dunkelheit schien seine leise Stimme zu verschlucken. »Und du bist nicht wertlos, Alissa. Du wirst eine neue Quelle bekommen.«
»Nein«, protestierte sie. »Es ist mir gleich. Ich will nicht mehr. Ich bin fertig damit.« Ihr Blick war auf Kralle gerichtet, und sie fragte sich, wann Nutzlos endlich fortgehen würde, wie alle anderen. Sogar Strell hatte sie
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