Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
schwaches Lächeln brachte sie dazu, die Augen zu öffnen. »Wusstet Ihr, dass Kralle einmal eine ganze Woche damit verbracht hat, mir Schlangen zu bringen?«, bemerkte sie, und Nutzlos’ Blick wurde weich.
Alissa schlang den gesunden Arm um ihre Knie, als die Wärme des Feuers durch den dünnen Stoff ihrer Kleider drang. Ihre gebrochene Hand lag wie ein totes Ding in ihrem Schoß. »Das wäre ja nicht so schlimm gewesen«, fuhr Alissa fort, »aber einmal hat sie mir eine gebracht, die noch nicht tot war. Kralle hat sie in der Küche fallen lassen. Meine Mutter hat die Schlange getötet – sie hat ein Messer nach ihr geworfen und getroffen. Ich wusste gar nicht, dass sie das konnte. Danach musste ich drei Monate lang mit den Füßen auf dem Stuhl sitzen, bis sie sicher war, dass Kralle nicht noch eine Schlange ins Haus gebracht hatte, ohne dass wir es gemerkt haben.«
»Und, hat sie? Euch noch eine gebracht, meine ich?«, fragte Nutzlos sanft.
»Nur noch ein Mal. Ich habe so ein Gesicht gezogen, dass Kralle wohl erkannt hat, dass ich so etwas nie essen würde.«
Nutzlos schob einen Zweig ins Feuer, wobei seine Finger beinahe zwischen die Flammen gerieten. »Ich habe noch nie von einem Vogel gehört, der sich so verhalten hätte.«
Alissa blickte auf Kralle hinab und schaute rasch wieder weg. »Kralle hat sich nie normal verhalten«, sagte sie und stellte fest, dass ihr das Reden leichter fiel, als sie sich vorgestellt hatte. Sie zupfte an dem Verband um ihr Handgelenk.
Nutzlos schien zu verstehen und schlug einen lockereren Tonfall an. »Was ich wirklich nicht verstehe, ist, wie sie nachts fliegen konnte. Sie war eine hervorragende Fliegerin. Das Einzige, was ich nie fangen konnte.«
Alissa blickte auf. »Ich dachte, Ihr hättet Eure Spielchen mit ihr immer gewonnen.«
Nutzlos schüttelte den Kopf, und ein Schleier der Erinnerung senkte sich vor seine Augen. »Nein. Und ich konnte sonst alles fangen, Keribdis eingeschlossen.« Er schnitt eine Grimasse und zwang sich, leichthin weiterzusprechen. »Das stimmt nicht ganz. Redal-Stan habe ich auch nie gefangen. Er war es, der mich das Fliegen lehrte. Für einen Transformanten war er mehr Raku als die meisten, die mit goldener Haut geboren werden.«
Alissa nickte und rückte ein wenig von den Flammen ab, die immer höher züngelten. Sie wischte sich die tränenden Augen und überlegte, ob das Feuer bereits heiß genug sei.
»Ja«, sagte Nutzlos und ordnete die Kohlen zu einer ebenen Fläche an, als hätte er ihre Gedanken gelesen. »Wenn du so weit bist. Für einen Vogel hat sie außerordentlich lange gelebt. Es wird Zeit, dass sie zum Navigator zurückkehrt.« Seine goldenen Augen schimmerten. »Ich wette, sie wird dich auf der Lehne deines Stuhls an der Tafel des Navigators erwarten, wenn du dort ankommst«, sagte er, und Alissa schluchzte erstickt.
Tränen liefen ihr übers Gesicht, als sie Kralle ungeschickt mit einer Hand aufhob. Der kleine Vogel war leicht, beinahe, als hielte sie gar nichts in der Hand. Alissa schloss die Augen, begrub die Nase in den seidigen Federn im Nacken und sog ein letztes Mal Kralles Duft ein. Der wilde Geruch von Wolken durchströmte sie und überdeckte beinahe etwas, das ihr noch nie zuvor aufgefallen war.
Bücherleim?, dachte sie und zögerte. Warum roch Kralle nach Bücherleim?
Ihre Augen öffneten sich, doch sie sah nichts. Sie kannte diesen Geruch; da war sie ganz sicher.
Alissas Tränen versiegten, als ein schwacher Gedanke darum kämpfte, Form anzunehmen. Visionen von ihrem Sessel vor dem Feuer im Speisesaal der Bewahrer und von Redal-Stans Kissen schwirrten ihr durch den Kopf. »Nein«, flüsterte sie, weil sie nicht glauben konnte, dass diese zwei Dinge eine Verbindung zu Kralle hatten. Doch der Duft von Bücherleim drang energisch durch ihre Gedanken und schob sie zurecht.
»Redal-Stan?«, flüsterte sie, und ihre Augen weiteten sich, als sie fassungslos zu Nutzlos aufblickte.
Sie hatte dem alten Meister eine Erinnerung an Kralle gegeben. Das wusste sie noch, dachte sie, und ihr Herz schlug schneller. War es möglich, dass Redal-Stan doch herausgefunden hatte, wie sie die Überschneidung der Muster bewirkt hatte und bei der Verwandlung durch die Zeit gereist war? Hatte er ihre Erinnerung benutzt, um sich vorwärtszuversetzen?
Mit einem Gefühl der Unwirklichkeit drückte Alissa Kralle an sich. Aber weshalb hätte er sich in einen Vogel verwandeln sollen? Er musste gewusst haben, dass die Pfade von Vögeln
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