Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
der Takelage verfing, wenn er von dort oben absprang.
»Ihr wollt fort?«, fragte der Kapitän säuerlich, denn er hatte offenbar erraten, weshalb Talo-Toecan die Segel beäugte. »Seid bis Sonnenaufgang zurück, sonst kürze ich Euch die Heuer, genau so, als wärt Ihr zu betrunken, um zu arbeiten.«
Ein Lächeln breitete sich über Talo-Toecans Gesicht. Er hatte sich fünfhundert Jahre lang an niemandes Vorschriften halten müssen. Echt oder eingebildet. »Ich muss etwas zu Ende bringen«, sagte er leise. »Wir sind weit genug fort …« Er zögerte. »Ich wollte weit genug weg sein, damit nicht einmal Alissa ein Echo erlauschen kann. Sie muss das nicht zu Ende bringen, sondern ich. Sie wollte mich davon überzeugen, schlafende Rakus nicht zu wecken, aber das kann ich nicht. Keribdis ist meine Frau. Ich sollte derjenige sein, der es tut.«
»Ja«, sagte der Kapitän, und sein Blick huschte zum Bug, wo Strell und Alissa verschwunden waren. »Ich kenne mich aus mit unglücklichen Ehefrauen. Ich denke, diese beiden werden mehr Glück haben als wir, was? Sie scheinen den Dreh rauszuhaben. Wie man beim anderen das Beste zum Vorschein bringt, meine ich.« Er seufzte, und Talo-Toecan erkannte, dass ihre schwächeren Verwandten zwar wesentlich kürzer lebten, doch ebenso tief empfanden, ebenso heftig liebten. Vielleicht sogar noch mehr.
Talo-Toecans Schultern hoben und senkten sich bei einem tiefen Atemzug. Er blickte auf und sah, dass Connen-Neute ihn mit ernstem, wissendem Blick beobachtete. »Ich bin vor Sonnenaufgang zurück«, brummte er dem Kapitän zu. Ohne ein Wort zu Connen-Neute trat er an die Reling. Er stemmte sich hinauf und tauchte mit einem Sprung ins herrlich warme Wasser. Er verwandelte sich, ehe er an die Oberfläche zurückkehrte. Zu seiner Überraschung spürte er ein seltsames, nicht unangenehmes Anschwellen seiner Quelle, als diese die zusätzliche Energie in sich aufnahm, die daher rührte, dass sie das wenige Salzwasser, das ihn berührte, ebenfalls zerlegte.
Als Raku durchbrach er die Oberfläche. So würde es schwieriger sein, sich in die Luft zu erheben, aber immer noch einfacher, als erklären zu müssen, warum er sich in der Takelage verfangen und das Schiff zum Kentern gebracht hatte. Schweren Herzens schüttelte er sich das Wasser von den Schwingen und zwang sich, in die Luft aufzusteigen, den Sternen entgegen.
Erneut schloss er die Augen, als er auf dem Wind ritt und die Ähnlichkeiten und Unterschiede zu vorhin erspürte, als er auf dem Deck der Albatros gestanden hatte. Nur allzu bald zeichnete sich der Umriss der Insel als dunklerer Fleck vor Meer und Himmel ab. Gelegentliches Zupfen an seinem Bewusstsein wies auf die Vorbereitungen hin, die das Konklave dort unten traf. Die anderen würden erst in ein paar Wochen aufbrechen, aber um dieselbe Zeitspanne früher auf der Feste ankommen als die Reisenden auf der Albatros. Talo-Toecan hielt es für gut, dass die jüngsten Angehörigen der Feste für eine Weile von den übrigen getrennt waren. Zu viele Persönlichkeiten waren zu lange unterdrückt worden. Sie brauchten Zeit für sich allein, um zu erkennen, zu wem sie werden konnten.
Seine Gedanken verdüsterten sich, als er eine schwache, sehr vorsichtige Suche durchführte. Schuldgefühle und das noch ältere Gefühl, verraten und betrogen worden zu sein, wallten in ihm auf, als er sie auf einer Insel am Ende der kleinen Inselkette fand. Ein großes Feuer flackerte und tanzte in der breitesten Bucht, und dort landete er, um sofort seine menschliche Gestalt anzunehmen.
Sie stand vor den Flammen und posierte absichtlich so, dass das bernsteinfarbene Licht vorteilhaft auf ihr Gesicht fiel und die wenigen Falten verbarg. Ihr Haar war mit Bändern geschmückt. Er hatte sie ihr geschenkt, alle: Zeichen seiner Liebe, Unterpfänder seines sehnlichen Wunsches, sie zu verstehen. Er spannte alle Muskeln an und stählte sich gegen ihre Verführungskunst. Es war so lange her. Und er hatte sich verzweifelt gewünscht, sie könnten sich irgendwann einigen.
»Du kommst spät«, sagte sie hart und präzise.
»Ich wollte gar nicht kommen.«
Sie schnaubte und zog spöttisch die Augenbrauen hoch. »Mir ist auch klar, warum. Du hast sie ruiniert, Talo. Sie sollte mir gehören, und du hast sie verdorben.«
Seine Entschlossenheit wuchs. »Sie sollte allen gehören und ganz und gar sie selbst sein.«
Er spürte ein Zwicken in seinem Geist, als sie ein Kissen erschuf. Anmutig ließ sie sich darauf
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