Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
das Meer nicht überstehen. Es ist ein weiter Weg. Zu lang, um ohne Hoffnung zu überleben. Der Verlust wird sie um den Verstand bringen.« Keribdis lachte grausam. »Ach nein, das hatte ich vergessen. Sie ist ja bereits wahnsinnig.«
Talo-Toecan spannte sich an. Er wollte ihr ins Gesicht schreien, dass sie sich irrte. Dass er sie liebte, aber dass es falsch sei, ihre schwächeren menschlichen Verwandten wie Schafe zu behandeln. Dass er diesmal nicht einfach wegschauen konnte. Dass er hier war, um sie ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Dass es ihm leidtat. Dass er zornig war. Dass sie mehr Schmerz und Leid verursacht hatte als tausend harte Winter. Dass er nicht verstand, warum sie nicht anders sein konnte … Ein Dutzend Dinge mussten gesagt werden, doch ihm kam nur eines über die Lippen: »Sie hat dich erneut besiegt. Sie besitzt Redal-Stans Quelle.«
Einen Herzschlag lang herrschte Schweigen. »Redal-Stan –«
Er sah sie an und spürte, wie sein Blick hart wurde. »Ich werde meinen Atem nicht darauf vergeuden, dir zu erklären, wie. Ich bin nicht gekommen, um dir Antworten zu bringen. Ich bin hier, um ein Urteil zu vollstrecken.«
Keribdis auf ihrem Kissen vor ihrem übergroßen Feuer wurde weiß. Nun meinte Talo-Toecan einen Hauch von Angst in ihrem Gesicht zu erkennen. Erst jetzt, da ihr klar wurde, dass er nicht gekommen war, um sie um Verzeihung zu bitten oder ihr zu verzeihen, kam ein Funken Gefühl in ihr auf. »Das würdest du nicht tun«, flüsterte sie. »Das kannst du nicht.«
Er sagte nichts. Der Teil von ihm, der unter seiner Entschlossenheit und seinem Zorn begraben war, schrie nein. Er brachte ihn zum Schweigen.
»Das kannst du nicht!«, rief sie verzweifelt. »Ich bin deine Frau!«
Sein Atemzug geriet zu einem Stöhnen, und er hielt die Luft an. »Ich kann nicht länger wegschauen, Keribdis«, sagte er schließlich. »Du lässt zu viele Menschen leiden.«
»Das sind doch bloß Menschen!«, protestierte sie.
»Das macht es nicht rechtens«, sagte er, als seine schwache Hoffnung, sie könnte Reue zeigen, endgültig erlosch. »Die abgeteilten Gruppen von Menschen vermischen sich. Die Allele haben unsere Barrieren überwunden. Wir haben keine Kontrolle mehr darüber. Die sollten wir auch nicht haben. Im Lauf der nächsten paar Jahrhunderte werden wir bis zu den Schwingenspitzen in Bewahrern und Transformanten stehen, von Shadufs und Septhamas ganz zu schweigen. Wir haben keine Zeit für deine Spielchen.«
»Spielchen!«, schrie sie, und rote Flecken traten auf ihre Wangen.
»Ich bitte dich hierzubleiben.« Er begegnete ihrem verzweifelten Blick. »Für immer.«
Sie biss die Zähne zusammen, und er erstarrte. Sie erhob sich und bot einen prachtvollen Anblick. »Das werde ich nicht tun!«
Sie verschwand in grauem Nebel. Er taumelte zurück, als sie in ihrer Raku-Gestalt wieder erschien. Das Feuer schimmerte auf ihrer Haut und ließ sie jung und golden erstrahlen. »Ich bin fertig mit dir«, dachte sie grausam und duckte sich, um sich in die Luft zu erheben. »Du wirst alles ruinieren. Alles! Dir hat nie etwas an mir gelegen. Du hast dich immer nur um deine kostbaren Bewahrer und deine Feste gekümmert!«
Talo-Toecans Schuld fühlte sich dunkel und bitter an, noch bevor er handelte. Sie würde es nie verstehen. Wie konnte sie so brillant sein und zugleich so blind? »Keribdis«, flehte er. »Bitte. Versprich mir nur, dass du hierbleiben wirst.«
Sie bog den langen Hals und schnaubte auf ihn herab. »Ich werde dir ein Geheimnis anvertrauen, das jeder außer dir zu kennen scheint, Talo. Wir sind kein bisschen wie sie! Menschen sind Futter. Rohmaterial. Sie sind uns nicht gleichgestellt. Nicht einmal unsere Transformanten sind wahrhaft unseresgleichen!« Sie hob den Kopf und blickte in Richtung der Insel, auf der sich der Rest des Konklaves befand. »Ich bringe sie nach Hause. Wir werden wieder nach der alten Art leben. Wir werden das Hochland und das Tiefland zurückerobern. Den Menschen hätte niemals gestattet werden dürfen, die Küste zu verlassen. Die Feste wird in Stücke geschlagen und vom Rand der Klippe geschleudert. Und du!« Sie brüllte das Wort in seinen Geist hinein. »Du wirst niemals – niemals – wieder von irgendjemandem ernst genommen werden. Deine Vorstellung von Gleichheit ist wertloser Mist. Die letzten fünf Jahrzehnte beweisen es!«
Talo-Toecan war wie gebannt von ihrem prachtvollen Zorn. Sie war wunderschön, wenn sie so leidenschaftlich war, und vielleicht war
Weitere Kostenlose Bücher