Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
das der Grund, weshalb er ihr nicht früher Einhalt geboten hatte. Dies alles war zum Teil auch seine Schuld. Zu einem großen Teil vermutlich. »Es tut mir leid, Keribdis«, sagte er und berührte ein letztes Mal zärtlich ihren Geist.
Sie wich überrascht zurück, und er schlug zu.
Ihr Körper versteifte sich, als er tief in ihren Geist eindrang und ihren Schock nutzte, um ihren Schutz zu unterlaufen. Er sah ihre Angst, dass ihr das Konklave, das sie so fest im Griff gehabt hatte, entgleiten könnte. Er empfand Mitleid für ihr Grauen davor, dass sie der Menschheit doch nicht überlegen sein könnte, und Abscheu vor ihrem verzweifelten Drang, die Menschen unwissend zu halten, um ihr Selbstwertgefühl nicht zu verlieren. Sein Herz verkrampfte sich vor Trauer über ihre sinnlose Eifersucht auf ihn, weil er so leicht freundschaftlich mit den Menschen umgehen konnte, und er weinte über ihre vergebliche Hoffnung, dass er sie trotz allem noch lieben könnte. Und irgendwo, tief in ihrem Innersten, beinahe verloren zwischen ihren Ängsten und den schrecklichen Bedürfnissen, die diese Ängste hervorriefen, fand er ihre Freude am Fliegen.
In grausamer Rache stürzte er sich darauf. Er schob alles andere fort und gab dieser Freude Raum, damit sie wachsen, sich ausdehnen konnte. Ihre Freude flackerte auf, schien zu zögern. Schieres Grauen erfüllte ihn, und er wäre beinahe geflohen, als er begriff, dass Alissa vollkommen recht hatte.
Keribdis’ wildes Bewusstsein hatte sich um diese Freude zusammengerollt wie ein verhungernder Mensch um eine Brotkruste. Einen Moment lang starrte er purem Instinkt ins Gesicht. Dann explodierte dieser Instinkt und verstieß ihn aus Keribdis’ Geist, um sich die Freiheit zu erkämpfen.
Talo-Toecan kehrte vor das Feuer zurück, taumelte und fiel hintenüber. Keribdis ragte über ihm auf, sie bäumte sich auf, als sei sie an den Boden gekettet. Sie kreischte, laut und in seinen Gedanken. Er starrte sie an, presste beide Hände auf die Ohren und erkannte, dass er es geschafft hatte. Entsetzen drehte ihm den Magen um, und er rief qualvoll ihren Namen. Sie war verwildert. Es konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Der Raku, der einmal seine Frau gewesen war, kreischte und erhob sich mit ausgebreiteten Schwingen auf die Hinterbeine. Das Feuerlicht hüllte sie in einen unwirklichen Glanz. Talo-Toecan rappelte sich hastig auf. »Ich habe dich befreit!«, brüllte er und wusste, dass ihr wildes Bewusstsein ihn verstehen würde. »Ich habe dich befreit. Flieg!«
Und der Raku flog. Mit der Wucht eines einzigen Flügelschlags zerstreute sie das Feuer über den Strand. Talo-Toecan schützte das Gesicht mit den Händen und klopfte dann hastig die Glut an seiner Hose aus, wo ein brennendes Stück Holz ihn getroffen hatte. Als er in der neuen Dunkelheit wieder aufblickte, war sie fort.
Er lauschte noch einen Moment lang. Dann sandte er ihr einen Gedanken nach, fand aber nichts.
Er sank auf dem abkühlenden Sand zusammen, barg den Kopf in den Händen und weinte.
– 40 –
L iebe hat mit Dominanz nichts gemein«, sagte Strell, und seine klangvolle Stimme tröpfelte in Alissas Traum vom Rübenhacken wie Sahne in Tee.
»Da irrst du dich. Liebe ist Dominanz. Alles, was ich gesehen habe, sagt mir das«, hörte Alissa ihre Stimme erwidern, allerdings mit ungewöhnlich präziser Aussprache. Im Traum richtete sie sich auf und stützte sich auf den Hackenstiel aus Euthymienholz. Jemand kam über das Feld auf sie zu. Sie waren nicht mehr als verschwommene Schatten, und sie fragte sich, wer das sein mochte. »Das ist zu schwer«, hörte sie sich sagen, und dann zerplatzte ihr Traum, als sie erkannte, dass Bestie direkt mit Strell sprach. Erschrocken fuhr Alissa aus dem Schlaf.
Sie kam zu sich, aufrecht sitzend auf ihrem kleinen, V-förmigen Lager im Bug. Die Unterseite des Decks war eine Handbreit über ihrem Kopf, und der weiche Lichtschein einer Öllampe, die von der Decke hing, erleuchtete die winzige Kabine. Ein ängstlicher Gedanke von Bestie durchfuhr sie, und Alissa stellte wenig überrascht fest, dass Bestie sich mit dem Rücken an die Wand gedrückt hatte. Alissa tastete mit der gesunden Hand nach einem Halt, als sich der Bug aus dem Wasser hob und mit mächtigem Klatschen wieder eintauchte.
Keine Armeslänge von ihr entfernt, doch so weit weg, wie es die winzige Kajüte gestattete, saß Strell. Er beobachtete sie vom anderen Ende des Lagers her. Sein Haar war zerzaust, sein
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