Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
seine Stiefel. Ohne sie anzusehen, öffnete er die Tür und schloss sie leise hinter sich. Das ungleichmäßige Trampeln seiner ungeschnürten Stiefel wurde schwächer, und sie hörte ihn stolpern.
Alissa blickte sich in ihrer winzigen Kajüte um und versuchte, nicht zu weinen. »Was ist nur los mit dir, Bestie?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Warum kannst du das nicht verstehen?«
»Warum kannst du nicht fliegen?«, entgegnete Bestie säuerlich.
Alissa streckte sich ein wenig aus, erkundete Besties Gefühle und spürte das aufrichtige Bemühen ihrer wilden Seite, das Konzept der Liebe zu begreifen. Bestie wusste, dass sie da etwas nicht verstand, und wollte wirklich etwas daran ändern. Aber es lag nicht in ihrer Natur. Ebenso wenig lag es in Alissas Natur, den Wind zu verstehen und ihm zu vertrauen.
»Lodesh wird uns auslachen«, dachte Alissa verbittert und ärgerlich, während sie mit einer Hand die Laken zurechtzog. »Er wird lachen und lachen, und wenn Strell stirbt, wird er ebenfalls versuchen, uns zu Boden zu bringen.«
»Dann werde ich ihn auch schlagen«, sagte Bestie.
»Ach ja?« Alissa wurde missmutig. »Bis dahin wird er uns jedenfalls auslachen. Wenn du Strell nur vertrauen würdest …«, flehte sie.
Bestie teilte ihre Abneigung dagegen, ausgelacht zu werden, doch diese Einigkeit verpuffte sogleich. »Ich versuche es ja«, protestierte sie. »Genauso, wie du versuchst, dem Wind zu vertrauen. Ich glaube, wir beide sind einfach zu verschieden, zu getrennt.«
Alissa ließ sich im Schneidersitz mitten auf dem Bett nieder, wo die Decke am höchsten war. Die Bewegung des Schiffes hatte sich zu einem sanften Schaukeln abgeschwächt. »Ich will es doch verstehen«, flüsterte Bestie. »Er hat gesagt, dass er mich liebt, aber ich weiß nicht, was das bedeutet. Ich kann mir nicht vorstellen, warum du ihm erlauben willst, dich zu Boden zu bringen. Liebe muss – ein sehr starker Grund sein?«
Ein Schauer überlief den Körper, den sie sich teilten. »Sag es mir«, verlangte Bestie plötzlich. »Sag mir, was Liebe ist. Diesmal werde ich es verstehen.«
Alissa zuckte entmutigt mit den Schultern. Wie sollte sie das erklären? Das war ein ganzes Leben von Erinnerungen, von Gefühlen. Zarte Schattierungen, gemischt mit Hoffnungen und Begierden. Mitgefühl, Einfühlungsvermögen. Die Bereitschaft, vollkommen zu vertrauen, ohne Rücksicht auf die eigene Sicherheit. Völlige Hingabe. Es war unmöglich, ihr das einfach zu sagen.
»Zeig du mir, wie ich dem Wind vertrauen kann«, dachte Alissa düster und spürte, wie Bestie der Mut verließ.
»Das kann ich nicht«, flüsterte ihr wildes Bewusstsein. »Man tut es einfach – oder nicht.«
»Genau so ist die Liebe«, erklärte Alissa kläglich. »Man liebt einfach.«
»Vielleicht«, sagte Bestie mit ängstlicher Stimme. »Wenn wir unsere Gedanken frei vermischen, eins werden lassen, dann könnte ich dir vielleicht zeigen, wie ich dem Wind vertraue. Und du könntest mir die Liebe zeigen.«
Alissa wehrte sich. »Du meinst so etwas wie Huckepack?«, dachte sie und spürte Besties Zustimmung. »Ist es denn nicht schon so?«
»Doch«, gab Bestie ihr recht. »Aber jetzt teilen wir einander unsere Gedanken mit. Wie wäre es, wenn wir sie … sich vermischen lassen?«
Alissa erschrak. »Redal-Stan hat gesagt, dass man das nicht tun sollte. Wir könnten einander hassen!«
»Ich kann dich nicht hassen«, sagte Bestie beinahe tadelnd. »Ich bin du. Du kennst schon alle meine Gedanken, meine Ängste. Ich kenne deine. Warum sollte es also gefährlich sein?«
Alissas Angst ließ nach. Vollkommen loslassen? Sie wusste nicht, ob sie das konnte.
»Ich vertraue dir«, sagte Bestie und beschämte Alissa damit so, dass sie zögerlich zustimmte.
Um es ein wenig hinauszuschieben, blickte Alissa sich um. Alles war, wie es sein sollte. Ihre und Strells Sachen waren in die winzigen, schmalen Wandborde gestopft. Das Licht der Lampe flackerte und verschob die Schatten mit jeder Bewegung des Schiffes. Ihr war erstaunlich kalt, trotz der warmen Nacht, und sie zog sich die Decke über die Schultern. Bestie wartete geduldig.
Verlegen über ihr Zögern schnappte Alissa sich ein Kissen. Sie drückte es zwischen ihre gebrochene Hand und ihren Körper, schloss die Augen, nahm drei tiefe Atemzüge und versetzte sich in eine leichte Trance. Ein Schauer der Erwartung überlief sie, als Besties Präsenz in ihren Gedanken mehr Raum einnahm. Alissa war sich Besties lange nicht mehr so bewusst
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