Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
ersetzen, die anderswo Heuer genommen haben, während ich – äh – auf eine Fahrt gewartet habe, die verrückt genug ist, um ihr den Rest zu geben.«
Er trat hinunter in den abgesenkten Bereich, wandte sich um und streckte eine schwielige Hand aus, um ihr hinabzuhelfen. Das niedere Deck erinnerte sie an die Feuerstelle auf der Feste, obgleich es viel kleiner war. Er rief etwas und warf ihr Bündel einem dunkelhäutigen Mann in einer Schürze zu, der unter Deck stand.
»Hayden wird Euch zeigen, wo Ihr schlaft«, sagte er und wies auf den dunklen Mann, der ihr Bündel aufgefangen hatte. »Schafft am besten alles unter Deck, ehe wir den Hafen verlassen und die Gischt alles durchweicht.«
»Ja, natürlich«, murmelte sie und blickte zu den knatternden Segeln auf, als Strell, Lodesh und Connen-Neute zu ihnen traten. Sie hatten die Arme voller Gepäck, und selbst im Fackelschein konnte Alissa erkennen, dass Strell sehr elend aussah.
»Anker an Deck!«, brüllte jemand. »Wende!«
Alissa spürte, wie sich das Schiff drehte, und eine starke Hand drückte ihre Schulter hinab. »Gebt acht auf den Baum, Ma’hr«, sagte der Kapitän, und der schwere, runde Balken, an dem der untere Rand des Segels befestigt war, schwang genau da über das Deck, wo eben noch ihr Kopf gewesen war. Ein dumpfer Schlag ließ das Holz unter ihren Füßen erbeben, als die Segel den Wind einfingen und sich straff an ihren Seilen spannten. Plötzlich war der Lärm der Segel verstummt, und das Schiff setzte sich in Bewegung.
»Über das Deck?«, flüsterte Strell und umklammerte das Bündel, das er sich an den Bauch drückte.
Lodesh grinste. »Ja«, antwortete er fröhlich. »Große Wellen spritzenden Wassers gehen auf und ab, wochenlang.«
Seine Stimme hob und senkte sich wie seine Hände, als wollte er die Erklärung veranschaulichen, und Alissa schluckte. Auf einmal war ihr ein wenig übel. »Hör doch auf«, schalt sie ihn, und Lodesh und Connen-Neute wechselten einen seltsamen Blick.
»Das könnte die kürzeste Seereise aller Zeiten werden«, sagte der junge Meister. »Ich glaube, unsere Alissa wird seekrank.«
– 10 –
M a’hr?«, sagte der Schiffskoch, und sein melodischer Dockmann-Akzent weckte Alissas Aufmerksamkeit wie ein zwitschernder Vogel.
Sie lächelte, als er sich die Hand an der Schürze abwischte und ihr einen dickwandigen Becher mit Tee entgegenstreckte. »Guten Morgen, Hayden«, sagte sie fröhlich und nahm den Becher mit der flachen Hand. Als sie ihn am ersten Tag beim Henkel ergriffen hatte, hatte Hayden den Becher mitsamt dem Tee zornig über Bord geworfen, zum großen Ärger von Kapitän Sholan. Dem Aberglauben des Dockmanns zufolge hatte sie damit wandernden Geistern erlaubt, daraus zu trinken.
Hayden strich sich mit einer Hand, die noch nicht von der See verkrümmt war, über das bärtige Kinn. »Habe vor Sonnenaufgang einen Vogel auf dem Mast gesehen«, sagte er, und seine braunen Augen blickten ernst drein. »Das bringt Glück.«
»Fast so viel Glück wie eine Katze, die einen anniest, ehe man aufsteht, nicht?«, fragte sie.
Er lächelte, und sein sonst so jung wirkendes Gesicht legte sich in tiefe Falten. »Ihr lernt rasch. Bringt meinen Becher nur nicht zum Bug. Da ist ein Mann bei einem Sturz zu Tode gekommen, und es würde ihm nicht gefallen, wenn Ihr ihn weckt.«
Alissa nickte und nahm den heißen Becher richtig in die Hand. Der Dockmann fasste allmählich Zutrauen zu ihr. Die beiden anderen wahrten argwöhnisch Distanz; der Schiffsjunge wollte kein Wort mit ihr sprechen, und der andere hatte Nachtwache. Sie kannte nicht einmal seinen Namen. Sie nippte an dem Tee und sah zu, wie Hayden mit dem Messer eine weitere Kerbe in den Stützbalken ritzte. Bisher waren es drei, eine für jeden Sonnenaufgang, den sie seit ihrem Aufbruch gesehen hatten.
Mit einer Hand hielt sie den Becher, mit der anderen stützte sie sich an dem Handlauf ab, der an der niedrigen Decke befestigt war, und ging so klingelnd auf das helle Rechteck am Ende des Gangs zu. Der Boden unter ihren Füßen neigte sich, und das beständige Auf und Ab war beruhigend. »Wende!«, rief eine gedämpfte Stimme, und sie hielt sich gut fest. Sie kreuzten hin und her, seit sie den Hafen verlassen hatten. Wenn der Kapitän recht behielt, würden sie heute auf die Strömung treffen.
Der Einfallswinkel der Sonnenstrahlen an der Wand veränderte sich, und sie spürte, wie das Schiff wendete. Es schien in seiner rhythmischen Bewegung kurz zu
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