Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
die Wellen, auf denen sie lebten. Decken und Kissen lagen achtlos auf dem Dock verstreut. Kinder rannten von einer Gruppe zur nächsten, ohne auf die ständige Gefahr zu achten, dass sie ins Wasser fallen könnten. Alte Männer angelten, und junge Pärchen steckten am Rand der Lichtkreise die Köpfe zusammen. Dies glich überhaupt nicht ihrem ersten Gang durch die Straßen; es war eher so, als streife man unbemerkt durch das Haus eines Fremden. Alissa kam sich vor wie ein Geist.
Der Hafen war von Menschen bevölkert, die ihr völlig verschieden von jenen auf den Straßen erschienen. Sie waren kleiner, dunkler und trugen Misstrauen wie einen Schild vor sich her. »Es sind viel mehr Leute als heute Morgen«, sagte sie und bezog sich auf ihren ersten Besuch am Hafen, als sie einen Blick auf die Albatros geworfen hatten.
Lodesh drückte ihre Hand, um sie auf einen breiten Riss im Dock aufmerksam zu machen. »Da waren die meisten draußen beim Fischen. Sie leben immer auf ihren Booten. Sogar im Winter.«
»Klingt nach erbärmlichen Zuständen«, sagte sie und musterte im Vorbeigehen das nächstliegende, dunkle Boot. Es war nicht größer als ein kleiner Schuppen, die Decke so niedrig, dass man sich gewiss ducken musste, wenn man unter Deck ging.
»Ich weiß es nicht.« Er schob sich die blonden Locken aus den Augen und lächelte. »Sie bleiben unter sich. Heiraten nur untereinander. Um ehrlich zu sein, blicken sie auf jeden herab, der nicht zu ihnen gehört. Dennoch hat Kapitän Sholan einige von ihnen in seiner Mannschaft.«
Alissa runzelte die Stirn. »Du hast doch gesagt, dass sie niemanden außer ihresgleichen leiden können.«
»Sie sind trotzdem bereit, für andere zu arbeiten«, erwiderte Lodesh. »Vor allem die jungen Männer, denn sie brauchen Geld, um sich das Material für ein Boot zu beschaffen. Die Mädchen sind auch bereit, auf einem fremden Schiff anzuheuern, bevor sie volljährig werden. Sie erhöhen damit ihren Wert, um einen besseren Ehemann zu bekommen. Es heißt, sie wären die besten Seeleute, die furchtlos und leicht wie die Vögel in der Takelage der großen Schiffe herumspringen. Sie zeigen ihren Status ebenfalls durch Glöckchen an, aber ihre sind sehr derb und einfach, nicht die wunderschönen Kunstwerke, die du am Knöchel trägst.«
Sie senkte den Blick. »Danke. Aber ich habe nichts getan, um sie mir zu verdienen.«
Lodesh drückte ihre Hand. »Ich denke doch, das hast du.«
Sie senkte den Kopf, weil sie wusste, dass das nicht stimmte. Starke Anspannung überkam sie, als sie am Ende des Docks stehen blieb. Ihre Stiefelspitzen berührten beinahe die Kante. Hinter ihr nahm das Leben der Hafenleute seinen gewohnten Gang. Vor ihr lag die schwarze Weite des Ozeans, nur Wind und Wasser bewegten sich, angetrieben von ihren eigenen und doch miteinander verwobenen Kräften. Der Wind zupfte eine Strähne aus dem weißen Haarband, das Lodesh ihr gekauft hatte, und blies sie ihr vor die Augen.
Alissa starrte zu den Lichtern auf dem Wasser, wo die größeren Schiffe vor Anker lagen. »Wie kommen wir auf unser Schiff?«, fragte sie und blickte unter sich, wo mehrere leere Ruderboote auf dem raueren Wasser außerhalb des geschützten Hafens schaukelten. »Können wir uns ein Ruderboot leihen?«
»Nein«, sagte Strell so hastig, dass sie es mit der Angst zu tun bekam. »Es wird jemand kommen.«
Nervös trat sie mit dem Gefühl von einem Fuß auf den anderen, unwissentlich einen schweren Fehler begangen zu haben. Bald war hinter ihnen das weiche Tapsen von Füßen zu hören. Es war ein kleiner, dünner Dockmann. Ohne ihnen in die Augen zu sehen, kletterte er in eines der Ruderboote, nahm die Ruder auf und wartete.
Lodesh zuckte mit den Schultern und trat mit einem geschickten Schritt in die Mitte des Bootes. Er streckte die Hand aus, und Strell und der Wirtshausdiener begannen, ihm das Gepäck zu reichen. Connen-Neute vergaß, dass er ja angeblich blind war, und stieg ohne Hilfe an Bord. Mühelos balancierte er das Gewicht aus, als Strell ihm die restlichen Bündel zuwarf. Doch es war der mürrische Hafenmann, der Alissas Stab entgegennahm und ihn im Dunkeln eindringlich musterte, ehe er ihn zum Gepäck legte.
»Das ist Euthymienholz«, sagte sie, obwohl sie wusste, dass ihm das nichts bedeuten konnte. »Aus den Bergen.«
»Daraus könnte man ein gutes Boot bauen«, erwiderte er, und seine melodische Stimme überraschte sie. Erst jetzt blickte der Mann auf und brummte, als er Kralle auf ihrer
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