Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
wurde er. »Ich dachte, du wolltest Keribdis lieber nicht finden«, bemerkte Alissa, als der junge Meister vor Ungeduld mit den Fingerknöcheln knackte.
Sein längliches Gesicht wurde ernst. Er und Lodesh wechselten einen Blick, der Alissas Neugier erregte. Die beiden hatten lange die Köpfe zusammengesteckt, während Kapitän Sholan nach einem guten Ankerplatz gesucht hatte. »Sie ist meine Lehrmeisterin«, sagte der junge Meister, ohne ihr in die Augen zu blicken. »Weshalb sollte ich sie nicht finden wollen?«
Alissa sah Lodesh stirnrunzelnd an. »Ihm zu sagen, er solle seine Gefühle verbergen, ist ein Fehler«, sprach sie in Gedanken zu ihm allein. »Vor allem, nachdem es so schwer für ihn war, sie sich einzugestehen.«
Den Blick auf die Bucht gerichtet, erwiderte Lodesh: »Du solltest sie erst einmal kennen lernen, ehe du mit dem Finger auf irgendjemanden zeigst. Sie ist eine Frau, mit der sich sehr schwer streiten lässt. «
»Ich will mich nicht mit ihr streiten«, protestierte Alissa. »Ich will sie nicht einmal kennen lernen.«
»Aber das bedeutet noch lange nicht, dass ich sie mögen muss«, unterbrach Connen-Neute unwissentlich ihre stumme Unterhaltung. »Trotz all ihrer Schwächen ist sie sehr erfahren. Ich kann viel von ihr lernen. Aber ich werde ihr nicht mehr erlauben, mich auf ihre Seite zu ziehen, wenn das Konklave abstimmt.«
Der Kapitän schnaubte, als überrasche es ihn, dass Connen-Neute irgendjemandem Rechenschaft schuldig sein könnte.
Alissa musste sich damit zufriedengeben und starrte stattdessen auf das Ufer und die seltsamen Bäume, die dort wuchsen. Langsam wurde das Rauschen der Brandung über dem Wind hörbar. Sie spähte hinab auf den Meeresboden, doch das Wasser war so klar, dass ihr Schatten ihr keinen Hinweis darauf gab, wie tief es wirklich war. Der schwarze Fleck dort unten wurde plötzlich größer. Ein Schauer überlief sie, als das Beiboot auf dem Strand aufsetzte. »Sand«, flüsterte sie und betrachtete mit zusammengekniffenen Augen den schimmernden weißen Streifen zwischen ihr und den grünen Bäumen. »Genau wie in meinem Traum.«
Lodesh hielt sich in der frischen Brise den Hut auf dem Kopf fest. »Wie bitte, Alissa?«
»Nichts.« Ihr Herz klopfte vor Aufregung, und sie hielt sich am Rand fest, als das Boot wild schaukelte. Strell und der Kapitän sprangen in die Brandung und zogen sie weiter den Strand hinauf. Einladend streckte Strell Alissa die Arme entgegen. Sie raffte ihre Röcke, fiel halb in seine Arme und genoss das Gefühl, umsorgt zu werden, während er sie über die letzten Wellen hinweg ans Ufer trug. Ihre Glöckchen bimmelten, als er sie abstellte. Strell umfasste ihre Taille fester, ehe er sie losließ. Sie blickte zu ihm auf und fragte sich, warum seine braunen Augen verkniffen vor Sorge wirkten.
Lodesh und Connen-Neute sprangen vom Bug aus auf den Sand, um ihre prächtigen Gewänder trocken zu halten. »Er ist heiß«, sagte sie und spürte die Wärme des Sandes durch ihre dünnen Sohlen. Strell nickte und war offensichtlich froh, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu haben. Während Alissa sich staunend umsah, zogen der Kapitän und Connen-Neute das Ruderboot über die Flutlinie hinaus. Mit einer Hand raffte Alissa ihre Röcke, mit der anderen drückte sie sich den Hut auf den Kopf, und dann tat sie die ersten, winzigen Schritte im losen Sand. Hinter ihnen drein stapfte Kapitän Sholan mit einem kleinen Bündel.
Ein beinahe undurchdringliches Band aus Vegetation erhob sich vor ihnen, doch sobald sie es erst überwunden hatten, wurde der seltsame Wald lichter. Vogelrufe aus den Bäumen vermengten sich mit dem Lärm der Möwen am Strand. Kralle erwiderte das Kreischen, und Connen-Neute beruhigte sie. Das Ganze kam Alissa vage bekannt vor, doch dieses Gefühl der Beständigkeit hatte in Sillas Träumen von ihrer Umgebung gefehlt.
Der Kapitän spähte stirnrunzelnd in den Wald. »Ich hoffe, hier gibt es Hartholz«, sagte er leise und rückte sein Bündel zurecht. »Wir brauchen etwas, womit wir den Baum reparieren können.«
Lodesh fing Alissa am Arm auf, als sie strauchelte. »Wir hätten erst um die Insel herumsegeln sollen, bis jemand uns bemerkt«, erklärte er fröhlich.
»Fauler Zitadellenherr«, fluchte Strell leise und hielt Alissa eine Ranke aus dem Weg. Das Laufen fiel ihr leichter, sobald sie unter den Bäumen waren, doch ihre Röcke blieben ständig irgendwo hängen, so dass sie deutlich langsamer vorankam als die anderen.
Weitere Kostenlose Bücher