Alissa 4 - Die letzte Wahrheit
um umgestürzte Bäume herum. Alissa krabbelte einen steilen Abhang hinauf. Steine pieksten ihr in die Handflächen. Ihre Füße rutschten weg, und sie fiel mit dem Gesicht voran in den Schmutz. »Silla!«, rief sie und spuckte ein paar vermoderte Blätter aus. »Warte!«
Alissa erreichte die Hügelkuppe. Ein Pfad führte darauf entlang. Sillas rote Schärpe blitzte durch die Bäume und verschwand. »Ich will nur mit dir reden!«, rief Alissa. Keuchend lief sie ihr nach. Alissas Haar verfing sich in einem Zweig. Mit einem frustrierten Aufschrei riss sie sich los. Das Blut rauschte ihr in den Ohren. Der Pfad unter ihren Füßen war festgetrampelt, so dass sie nun leichter vorankam.
Endlich schien sie Boden gutzumachen. Bestie, ganz vorn in ihrem Bewusstsein, warnte sie rechtzeitig vor tief hängenden Ästen und Löchern im Pfad. Gemeinsam kamen sie schnell voran.
»Silla, bitte!«, rief Alissa erneut. Sie war nun fast nah genug, um deren schwarzes Haar zu berühren. Alissa streckte die Hand aus, und Silla rannte mit aller Kraft. Die Hitze der Jagd packte Alissa, und grinsend fand sie neue Kraftreserven. Ihre Lunge brannte, ihre Muskeln schmerzten, aber sie würde das Mädchen fangen.
»Hol sie dir!«, rief Bestie. »Jetzt!«
Alissa stürzte nach vorn. Sie verfehlte die junge Frau, obwohl sie noch im Fall die Arme nach ihr ausstreckte. Ihre Finger erreichten nur einen Schuh, als sie auf dem Boden aufschlug, und den hielt sie fest. »Hab ich dich!«, keuchte sie, flach auf dem Boden ausgestreckt.
Innerlich jubelnd schnappte Alissa nach Luft. Sie blickte vom Boden auf, und ihr wurde eiskalt. Das war kein Schuh. Sie hielt den Knöchel einer Person in Sandalen gepackt. Der Fuß stand vor ihr.
Sie ließ ihn los, als hätte sie sich daran verbrannt. Alissa blickte auf und sah vor sich einen roten Saum, mit einem Rankenmuster bestickt. Panik durchfuhr sie.
Das war nicht Silla.
– 15 –
M it klopfendem Herzen blickte Alissa von dem staubigen Pfad auf. Ein leichter, roter Leinenrock ragte vor ihr auf, an einer schlanken Taille von einer roten Schärpe gegürtet, die mit gestickten schwarzen Ranken verziert war. Die dunkle Meisterweste hing offen über einem ärmellosen, kurzen Kittel, der locker auf schmalen Schultern saß. Alissa schluckte schwer, als sie weiter hinaufspähte und langes schwarzes Haar sah, mit Bändern arrangiert, hohe Wangen mit zornig roten Flecken und blitzende goldene Augen. Dunkle Augenbrauen, so ganz anders als ihre eigenen, waren zornig gerunzelt. Die Hände, die die Frau in die Hüften stemmte, waren unnatürlich lang, da die Finger vier Glieder aufwiesen, statt nur drei.
»Wer bist du?«, fragte die Frau, deren Stimme melodisch und hart zugleich klang.
Alissa rappelte sich auf. Hastig klopfte sie sich den Schmutz von den Kleidern und stellte zu ihrer entsetzlichen Verlegenheit fest, dass sie feucht und mit Laub bedeckt war. Silla versteckte sich halb hinter der Ehrfurcht gebietenden Frau. Alissa sah sie an, und das Mädchen, eigentlich eher eine junge Frau, wich mit aufgerissenen Augen zurück.
»Warum hast du sie verfolgt?«, fragte die Frau mit dem leicht abgehackten Akzent der Feste.
»Das ist sie«, flüsterte Silla und zupfte am Ärmel der Frau. »Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht den Verstand verliere.«
»Sei keine dumme Gans«, entgegnete die Frau und beruhigte Silla mit einer Hand. »Es ist mal wieder jemand angespült worden, weiter nichts.« Sie klang gereizt. »Ich weiß gar nicht, wohin mit ihr.« Sie schürzte die Lippen, und als sie sich das Haar zurückstrich, bemerkte Alissa, dass es graue Strähnen aufwies. Das Gesicht hatte einige Falten. Sie war älter, als Alissa auf den ersten Blick vermutet hatte, doch das machte sie nicht weniger beeindruckend.
»Nein«, sagte Alissa. »Wir haben versucht –«
»Wir?«, unterbrach die große Frau sie. »Da sind noch mehr? Asche.« Sie seufzte. »Schlaf einfach ein«, sagte sie gedankenverloren.
Alissa spürte ein Zupfen an ihrem Geist, als ein Schlafbann aufgebaut wurde. Ihre Augen weiteten sich. Sie schnappte nach Luft und brach das Feld, ehe der Bann wirken konnte. »So wartet doch einen Augenblick«, rief sie. »Würdet Ihr mir bitte erst zuhören?«
Überraschung zeichnete sich auf dem Gesicht der Frau ab. »Du bist Bewahrerin?«
»Eigentlich nicht«, sagte Alissa verlegen. Sie war verschwitzt und außer Atem und hatte Zweige im Haar. Und wo war nur ihr Hut geblieben? Sie hatte nicht die Absicht, sich
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