Aljoscha der Idiot
Worte gingen Aljoscha noch lange durch den Kopf. War nicht wirklich jeder Schmerz, der IHREN Namen trug, kostbarer als seichtes Glück? Aber würde ihm je bevorstehen, was Wladimir hinter sich hatte? Vor die Sphinx zu treten mit dem Wort – und dann empfangen, was die Herrin gibt? Er konnte kaum noch denken, er war ein einziges SIE-Wollen, und SIE war irgendwo und er war irgendwo und das Dazwischen zehrte an den Nerven, und nichts verriet, ob diese Trennung schon das Ende war – oder erst der Anfang.
Dann war er endlich da, der 6. Januar, der lang ersehnte Dienstag, vor angestrengtem Langersehnen fast verschlafen und verschenkt, Aljoscha kam zu spät und wie gerädert zur Poussin-Vorlesung, und der Hörsaal war so voll wie ein Wikingerschiff beim Beutezug. Also blieb Aljoscha bei der Tür stehen.
Nah genug bei IHR, um die Qualen eines Tantalus zu leiden.
Bei seinem Eintritt hatte SIE sich umgeblickt, und es blieb ein Rätsel, warum der Feuermelder hinter ihm nicht losging. In Dreiteufelsnamen, man wendet sich eben in die Richtung, aus der das Licht in einen dunklen Raum fällt. In Vierteufelsnamen, es hatte sich sonst niemand umgedreht. Nur SIE allein, und das Herz schlug ihm noch schneller bei dem Gedanken, daß SIE genau eine Veranlassung hatte, sich um die Nachzügler zu kümmern – minutenlang hoffte Aljoscha, daß nach ihm noch ein Unpünktlicher den Saal betrat, damit er prüfen konnte, was SIE dann tat, aber die Saaltür rührte sich nicht mehr.
Endlich sah er SIE wieder.
Zwei silberne Spangen im Haar, dem Film-noir-gewellten. Gab es wirklich einen Schurken, einen säbelrasselnden Hauptmann, der lüstern in denselben Spiegel blickte, vor dem SIE saß und Silberschmuck im Haar befestigte? Gab es einen Unwürdigen, in dessen grob gemeißeltes Ohr ein Schrei dieser Frau drang, gewaltsam abgetrotzt in debiler Ignoranz? Ein schon kurz danach zerfetztes Ohr, in dem ein Rauschen alles überspülte, das Rauschen von Blut und Jenseits? Mesalliance, wie keine je war…
Auch diese Vorlesung endete wie eine Vorlesung. Aljoscha verließ den Hörsaal wie ein Student. Am Ende des Korridors hielt er aus höflicher Gewohnheit die Tür auf, einen kurzen Blick hinter sich werfend und sich vergewissernd, ob er Höflichkeit und Tür im fliegenden Wechsel übergeben konnte. Aber direkt hinter ihm war niemand.
Dafür sah er SIE, noch tief im Korridor, aber näher kommend, wie aus der Tiefe jenes Raums, der auf der anderen Seite des Spiegels zu liegen scheint. Aljoscha erstarrte, wurde zum Standbild, doch nur für den zehnten Teil vom zehnten Teil einer Sekunde, denn SIE war noch viel zu weit entfernt, als daß er IHR mit lediglich mechanischer Artigkeit die Tür aufhalten konnte, es hätte Ewigkeiten gedauert und in Ewigkeiten geführt, es hätte SIE in Verlegenheit gebracht und von ihm eine titanische Anstrengung verlangt, es wäre die 13. Tat des Herakles gewesen. Fast nicht mehr rechtzeitig setzte er seinen unmerklich unterbrochenen Bewegungsablauf fort, es gelang ihm gerade noch, die Tür derart vor IHR zufallen zu lassen, daß es nicht rücksichtslos wirkte – während es die Höflichkeit allzu peinlich übertrieben hätte, wenn er IHR jetzt immer noch die Tür aufhielte… es war zum Verrücktwerden. Mörderisches schwarzes Kleid und bleich wie ein Todesengel: anders konnte auch das Schicksal selbst nicht aussehen. Schon folgte ihm das unbarmherzigeKlick-Klack IHRER Absätze – der Teufel stand grinsend in der Halle und machte eine Geste mit dem roten Kopf, die Aljoscha bedeuten sollte, über die linke Schulter zu blicken. Aber Aljoscha hatte gelernt, daß man niemals über die linke Schulter blicken darf, wenn der Teufel es will.
Das Geräusch der hohen Absätze wurde leiser. Aljoscha drehte sich einmal um die eigene Achse, als hätte ihn eine mächtige Hand wie einen Kreisel in Rotation versetzt, und er sah, daß SIE, die zur Garderobe abgebogen war, sich just in diesem Augenblick ebenfalls kurz umwandte, um sich seines Weges zu versichern – und IHR Blick war nichts anderes als ein Warnschuß, und er bedeutete: Du mußt dich entscheiden, oder das Spiel ist aus.
Und sehr aus schien das Spiel, als Aljoscha Stunden später in der Metro sich selbst überlassen war wie ein vergessener Geist. SIE war nicht gekommen.
Und dann begannen plötzlich Türme einzustürzen, begann das ganze Geröll zu rollen unter Aljoschas Füßen. War es tatsächlich erst drei Tage her, seit er Leda zuletzt gesehen hatte? Oder war es
Weitere Kostenlose Bücher