Aljoscha der Idiot
Trauer bluten, ein halb irr gewordenes Faktotum, das jede Faszination hierher verschleppt und an schwere Steine kettet, ein Louvre an Bildern, ein Logbuch der Traumfahrten, ein Labyrinth, ein Minotaurus, ein Kerberos, der die Schätze der Vergangenheit bewacht, oder die Schätze der Zukunft, vielleicht auch nichts als Spinnweben und der heulende Wind – was immer auch geschehen muß, laß es geschehen.
Während des ersten Aktes übermittelte die alte Dame Aljoscha und dem Mädchen tuschelnd ihre Eindrücke, wie eine Gouvernante, die sich reckt, um ihren Schutzbefohlenen die vorbeifahrende Kutsche des Königs zu beschreiben. Während des zweiten Aktes hauchte die Meerjungfrau Aljoscha einige Gedanken zu; was sie sagte, war nicht eigentlich an ihn gerichtet, und er vergaß sogar, verlegen nach einer Antwort zu grübeln, weil er spürte, wie um sein Herz gelegte Zwingen sich langsam zu lösen begannen. Während des dritten Aktes dann verließ das Mütterchen den Schauplatz, nicht ohne sich gerührt von ihren Schäfchen zu verabschieden.
Als Fanfare hatte die Musik begonnen, triumphal, wie eine Huldigung an Mars. Die Tänzer ließen ein Epos aufleben, in dem gewaltige Mächte miteinander rangen, und die Musik rief Aljoscha den martialischen Hauptmann ins Gedächtnis, von dem er geträumt hatte in der Nacht der Katzenmenschen. Es war strahlende Musik, die vorwärts stürmte wie ein göttlicher Streitwagen, sie warf alles und jeden zwischen die Fässer des Zeus mit den Gaben des Wehs und den Gaben des Heils. Bilder, die den Rausch sich erprobender Kräfte beschworen, naturhaften Trieb, der die Konstellationen der Masse bestimmte – Wesen wurde zu Gepräge, Gepräge zu Gefüge, Gefüge zu Struktur, Struktur zu Formation, Formation zu Organisation, Organisation wurde totalitär, wurde Tyrannei, alle nur noch Paladine einer fatalen Gesetzmäßigkeit, alle nur noch einstimmig sich einstimmend auf einen großen Glauben, in dem Menschliches unter Menschen sich verlor. Die Musik jedoch, sie untergrub latent ihr eigenes Pathos und ließ dunkle Vorahnungen wie schleichendes Gift durch die Motive rinnen. Inmitten des heroischen Taumels fühlt ein Namenloser die Bedrohung, kehrt sich ab vom hymnischen Wahn – er hält Ausschau. Aber wird er klug aus seiner Suche? Begreift er, was ihn treibt?
Er rettet sich in einen Traum von anderen Sphären. Lyrische, verführerische Musik, wie eine Huldigung an Venus. Himmlisch helle Anmutder Tänzerinnen, eine Vision von Heilung und Erlösung, vor Augen geführt wie ein neues Versprechen für Tantalus, zu nah, um jemals wieder zu verlöschen, zu schön, um jemals Wirklichkeit zu werden, ohne Opfer zu verlangen – zu erbarmungslos schön.
Was dann kam, war anders, unvorstellbar anders. Zunächst war nur Vibrieren, eine schaurige Präsenz, aus unendlichen Tiefen kommend, als Klang zunächst kaum hörbar; dann, so unerwartet, als würde eine Statue ihr steinernes Haupt bewegen, eine Stimme. Eine Frauenstimme. Eine Welt entfernt.
O MENSCH
singt sie und etwas regt sich, 2000 Faden tief, là-bas,
O MENSCH
auferweckt, beschworen,
GIB ACHT
unbeirrbar aufsteigend, höher und höher,
GIB ACHT
bis es an die Oberfläche kommt und auftaucht unter einem Purpurhimmel,
WAS SPRICHT DIE TIEFE MITTERNACHT?
schattenlos sich erhebend in unheimlicher Stille, unauslöschlich, unausweichlich – die Gestalt der Namenlosen, die namenlose Gestalt.
ICH SCHLIEF! ICH SCHLIEF!
Ihre Macht ist göttlich genug, um Blasphemie zu sein. Sie kennt ihre Opfer. Sie macht sich auf den Weg, um
AUS TIEFEM TRAUM
in tiefen Traum
BIN ICH ERWACHT
zu führen einen Erstgeborenen und ihn an vergessene Weisen zu erinnern, vergessene Seinsweisen, versunkene Kaskaden quälend süßer Töne, wie sie die Undinen singen.
DIE WELT IST TIEF
Die nunmehr Anwesende legt über ihn den Hauch des Abwesenden und spricht: „Du bist nur halb von dieser Welt.“
UND TIEFER ALS DER TAG GEDACHT
Sie schießt ihm eine Silberkugel durch den Kopf und spricht: „Unbedingte Liebe oder überhaupt nichts. Die Wurzeln sind abgeschnitten. Du wirst verdorren.“
TIEF IST IHR WEH
Sie schlingt die Arme um ihn, und ihre Augen sind Speere aus Licht, und sie spricht: „Aber eine Sehnsucht ist in dir, mächtig wie Tigersprünge, maßlos wie Prinzenwünsche, geduldig wie ein Reptil.“
LUST –
Sie peitscht ihn mit Ruten und spricht: „Sie rührt sich nicht. Doch sie ist hellwach. Und so viel älter als das Schlaflied, das die Welt ihr
Weitere Kostenlose Bücher