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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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ging’s mir damals besser.“
    „Zehn Jahre… da gelangt kein anderes Wesen mir nichts, dir nichts durch.“
    „Und wenn doch?“
    „Dann hat es die Macht, den Himmel zu brechen. Aber du sagtest ja gerade, eure Geschichte hat immer Unterbrechungen gehabt…“
    „In Zeiten, an die sich niemand mehr erinnert.“
    „Ja, aber ein Rhythmus mit Sprüngen ist immer noch ein Rhythmus. Immer noch euer Rhythmus.“
    „Etwas stimmt nicht, Pjotr. Das fühle ich. Es ist anders als damals. Ich habe mal gelesen, daß die Bewohner einer Südseeinsel, wenn ein Schiff am Horizont auftauchte, dieses Schiff zwar mit den Augen sahen, aber nicht wirklich wahrgenommen haben. Sie überführten es einfach nicht in ihr Bewußtsein, oder was weiß ich. Und warum nicht? Weil es nicht in ihr Weltbild paßte. Genauso habe ich es gemacht.“
    „Und jetzt nimmst du ein Schiff wahr.“
    „Ich kann nicht anders.“
    „Fährt eine Katze übers Meer, sie wird miauen.“
    „Was?“
    Leda kam von der Tagung zurück, und Aljoscha hätte sich gern wie ein hungriger Wolf auf sie gestürzt. Es war ja alles noch mit Leichtigkeit zu richten! Aber gerade, als es scheinen wollte, daß alle Mißgestimmtheit nur ein Spuk war, alle bösen Gedanken nur Schimären; gerade, als Aljoscha glauben wollte, daß dieses Gaukelspiel flüchtiger Launen endlich wieder der Beständigkeit des Tatsächlichen Platz machte, gerade in diese Zuversicht hinein fragte Leda ihn ganz arglos: „Liebst du mich? Liebst du mich wirklich ?“
    Wie die schwarzen Raben auf schneebedecktem Feld, wie die Boten des Unheils waren diese zärtlich gemeinten Worte, die nur wollten, was Liebende immer wollen: wissen, was man schon weiß… aber warum hatte Leda „Liebst du mich wirklich “ fragen und das letzte Wort dabei so sonderbar betonen müssen? So nicht-wie-sonst, gestreckt mit einer Spur Beunruhigung? Eine Frage wie aus Zeiten, an die sich niemand mehr erinnerte.
    Das garstige Grinsen der Schimären!

10
    Manchmal, wenn Aljoscha aufs Meer hinaus sah, meinte er sich an sein Schiff erinnern zu können, an das Ächzen und Knarren der Planken und Spanten, an das verzerrte Gesicht des Steuermanns, an Admiral Nelson, der nachts bei rauher See bisweilen aufstand, um die Schiffskatze zu trösten. Das ließ seine erste Ehe scheitern.
    Es war ihm selber ein Rätsel, aber wenn er wollte, konnte Aljoscha nahezu waschechtes Cockney-Englisch sprechen. Und in einem verschämten Winkel seines Herzens glaubte er, daß er in einem früheren Leben hinter einem der Fenster aufgewachsen war, unter denen die Huren von Whitechapel Wünsche weckten und nicht selten auch an Ort und Stelle erfüllten, daß er dann ausgerückt war zu den Docks von Bristol oder Plymouth, in Moloneys Bar seine Seele für ein paar Silbermünzen und eine Blasphemie verkauft hatte und dann an Bord gegangen war. Dafür sprach unbedingt, daß die alten Lieder aus England, Irland oder Schottland, die vom Leben der wehmütigen Seemänner und der tapferen Fabrikmädchen handelten, von blutigen Schurken wie Long Lankin, von der toten Braut, die als Geist zurückkehrt, oder von Thomas The Rhymer, den die Elfenkönigin ins Elfenland entführt, in Aljoscha stets den ungereimten Wunsch weckten, in der Zeit dieser Lieder gelebt zu haben – bis er sich eben sagte: das habe ich dann ja wohl, verflucht.
    Oft war es Musik, bei der die Melodie sich über einem einzigen beständig durchgehaltenen Akkord erhob; schon das machte Aljoscha völlig widerstandslos. Wie ein fester Blick, in dem die Macht von tausend Worten liegt. Eine Weite tat sich auf zum Auf-die-Knie-Sinken, und jede Melodie darin klang wie das erste oder letzte Lied auf Erden. Und wenn dann auch noch D-Dur die Tonart war! A Sailor’s Life, ein ganzes Seemannsleben in D-Dur… Aljoscha konnte keine Noten lesen, aber sobald er Musik hörte, bei der er sich wünschte, daß sie niemals aufhört, konnte er 100 Guineas darauf setzen, daß D-Dur im Spiel war.
    Wenn er also in einem früheren Leben Seemann gewesen und ertrunken war, wenn ihn die Undinen auf den Meeresgrund gezogen hatten, wenn in diesem Leben nun sein Ohr so überaus empfänglich für D-Dur war, und wenn das Meer uns ein Gedächtnis gibt für das letzte, was man hört nach einem Schiffbruch, dann konnte das zusammengefaßt nur eins bedeuten: die Undinen sangen in D-Dur.
    Aljoscha war zurückgekehrt zu Leda; geblieben waren ein Makel und ein Weh, das ihn wieder und wieder ans Meer zog. Die pathologische Logik fragte:

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