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Aljoscha der Idiot

Aljoscha der Idiot

Titel: Aljoscha der Idiot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Erdmann
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sagte, daß er nicht zu weit gehen durfte, buchstäblich und in jedem anderen Sinne.
    Seine Sinne gerieten in kompletten Aufruhr, seine Nervenbahnen glichen den Straßen von Kalkutta, wildes unverständliches aufgeregtes Gestikulieren im Gangesdelta seines ZNS, Aljoscha vertiefte sich in sein Buch und verstand von dem, was er da las, kein Wort mehr. Er starrte auf die Zeilen, aber seine Augen gehorchten einer technischen Störung. Aljoscha stand auf dem Bahnsteig von Wolchonka mit einer Wahrnehmung, die auf einen Punkt im All fokussiert war, der fünf Meter links von ihm lag, nur noch auf das reagierend, was da zu empfangen war. Und es war da, um empfangen zu werden. Die Erregungsübertragung in seinen Synapsen randalierte, als wollte sie verhaftet werden. Er stand völlig still, und sein Inneres tanzte einen Veitstanz.
    Mit überlegener Noblesse hatte SIE sich im Hintergrund gehalten, nahe bei den Schaukästen mit den Fahrplänen. Als eine Minute verstrichen war, maß der Abstand zwischen IHR und ihm jedoch nicht mehr die ursprünglichen fünf Meter. Die Distanz verringerte sich, ohne daß Aljoscha sich von der Stelle rührte. Teile, addiere, multipliziere und verstehe.
    Immer mehr Menschen drängten auf den Bahnsteig und schoben sich, ohne es zu merken, in einen Strahl allerfeinster Teilchen, in den durch beschleunigten Herzschlag aufgeladenen Ionensturm zwischen zwei scheinbar unbeteiligten Menschen, aber nichts und niemand unterbrach Aljoscha beim Empfinden jener Macht zu seiner Linken. IHRE Nähe beschlich ihn panthergleich, und Aljoscha ahnte, welche Veränderung jetzt heraufbeschworen wurde. Diese Ahnung war es, die ihn beinahe niedersinken ließ. Er hätte jetzt nur noch den Arm ausstrecken müssen, um SIE zu berühren. Mit überlegener Noblesse hatte SIE sich im Hintergrund gehalten, um alle Fahrpläne außer Kraft zu setzen.
    Er sah er SIE an, mit einer Frage in den Augen. SIE erwiderte den Blick, kurz und knapp, aber mit einer Antwort in den Augen. Es war, als hätte jemand Schach geboten.
    Langsam rollte die Metro nach Putjagora ein. Aljoscha ließ sein Buch verschwinden, und SIE, bei Isis, ließ erkennen, daß SIE mit ihm einsteigen und nicht von seiner Seite weichen würde. SIE änderte die Spielregeln. Er steuerte wie in Trance auf eine der Metrotüren zu, vor denen sich Menschenmengen stauten. Das Einsteigen zog sich hin… Aljoscha spürte, mit welch mathematischer Präzision dieses Zeitlupentempo auf etwas zulief, das seine Kräfte überstieg – im allerletzten Augenblick floh Aljoscha aus IHREM Bann und bestieg den Metrowaggon durch eine andere Tür. Solch abrupter Richtungsänderung konnte SIE nicht folgen, würde SIE nicht folgen – und SIE folgte nicht.
    Als die Metro sich in Bewegung setzte, fand Aljoscha seine Fassung wieder. Er dachte die Gedanken, die Deserteure eben denken. SIE mußte sich irgendwo in diesem langen Waggon befinden, in dem etwa ein Viertel der Weltbevölkerung enerviert aus der Wäsche schaute. Noch vor zwei Minuten hätte Aljoscha überhaupt darauf gesetzt, daß SIE die Metro nehmen würde, die durch die noblen Stadtteile in Richtung Belonosko fuhr. Die bourgeoise Metro. Die Putjagora-Metro war die Metro des Proletariats. Die Wege des Herrn, nur halb so unergründlich wie die der Herrin. Aber wenn man es genau betrachtete, hätte die bourgeoise Metro ebensowenig zu IHR gepaßt. Was hätte überhaupt zu IHR gepaßt? Vielleicht eine Petersburger Troika auf einem zugefrorenen See, weiße Pferde links und rechts und ein schwarzes in der Mitte.
    Woroprod, die erste Station, und wer starrte so gebannt aus dem verschmutzten Fenster wie Aljoscha? SIE war nicht ausgestiegen. Eine Metro voll eschatologischer Erwartung rollte weiter durch den trüben Winterabend.
    Dobropol, die nächste Station. „Nicht hier! Das geht nicht!“ dachte Aljoscha – SIE war ausgestiegen. Auf der anderen Seite der schmutzigen Glasscheibe sah er die Katzenmenschenfrau mit eiligen Schritten entschwinden, hier, schon, warum denn ausgerechnet hier? Dobropol? Unfaßbar. Unmöglich. Dobropol. Ha.
    Ozeane von Bildern und Gedanken überfluteten Aljoscha in dieser Nacht, kein Damm hielt stand, das war der Untergang, wie süß! Seit Stunden ging das so, und anders ging es nicht. Der Himmel wird brechen, weiß eine orientalische Sage, es sei denn, der Dicke, der Unendlich Dicke, schluckt jeden Tag eine Murmel. Aljoscha betrachtete die Sterne und fragte sich, ob sie wohl günstig standen oder ungünstig,

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