Aljoscha der Idiot
halbe Erdumrundung Wahnwitz war. Es war die Stadt, die ihn nicht wollte.
Am dritten Abend hatte er Valeria angerufen. Er saß auf der Veranda seiner Pension und wartete. Er wußte kaum noch, worauf. Valeria erschien, und er erkannte sie fast nicht. Er erkannte, daß es zwei Valerias gab.
Sie verbrachten einen Abend miteinander, der keine Bedeutung mehr hatte, und im Rumoren der absurden Nacht fand Valeria, er könne ihr die Haare schneiden; mit der Riesenschere, die sie ihm dafür aushändigte, zerstückelte Aljoscha den Traum und den Dornröschenwahn, noch bevor er eine Strähne von Valerias Haar berührt hatte. Und um Valerias Haar berühren zu können, hätte er noch vor kurzem einen Bischof umgeboxt.
Am nächsten Morgen war die kalte Stadt von Aljoscha verlassen und Valeria eine jener Frauen, die ein undeutliches Ansinnen aufstört; verwundert lauschen sie genauer, bis eine leise Erschütterung sie ereilt, Nachbeben einer Regung, die Wehr und Harnisch zu überwinden gewillt war und doch fremd und unverständlich blieb und schon wiederviel zu fern ist – endlich bereit, all dies zu ergründen, bleibt ihnen nur noch die Erinnerung an einen Blick, der nicht verriet, daß es der letzte war. Nur noch das verschwommene Bild dieses rätselhaften Sohns eines anderen, vergessenen Zeitalters, der mit einer Frage in ihr Leben kam und es mit einer Antwort wieder verließ und nicht mehr wissen ließ, wie die Frage war und wie die Antwort.
Die brillante Stadt bestand mit einem Schlag aus uralten, maroden Gemäuern: eine obsolete, kranke Stadt. Ein unheimlicher Wind wehte immer heftiger durch das verwinkelte Gebälk, bis die ganze verblendete Zimmermannsarbeit zusammenstürzte und der ohrenbetäubende Krach vom schlingenden Nichts vertilgt wurde.
Der Hausmeister der Wahnideen war wie vom Donner gerührt. Aljoscha hatte beharrt auf seinem falschen Himmel; nun war er gefallen. Er war immerzu in die verkehrte Richtung gewandert, auf dem Weg, der ihn von seinem Ideal zur Liebe hatte führen sollen – jetzt verstand er, daß erst durch die Liebe das Ideal bestehen konnte. So vorsichtig, als müsse sein Kopf abfallen dabei, wandte er sich um; da lag der Weg, der nun zu gehen war. Eh und je hatte er mit Halluzinationen und Delirien sein sinnloses Martyrium aufrechterhalten, nur um das kürzeste aller Worte zu vermeiden, das auszusprechen sehr wohl eine Schwierigkeit sein kann, vor der alle Kraft versagt: das einfache Ja, die einfache Einwilligung, das Wort des Einverstandenseins, des Nur-ein-Verstand-Seins und -Seinwollens… das schlichte und simple Ja zu Ledas Liebe, es war Aljoscha nicht möglich gewesen.
Desillusionierte Kreuzfahrer im Mittelalter kannten für ihresgleichen nur noch ein schlimmeres Schimpfwort als „kompletter Idiot“, nämlich: „Idealist“. Ein Ideal ist immer auch real, andernfalls ist es nicht. Aljoscha war jetzt willens und bereit, ins Irdische zu treten, domestiziert zu werden für diese Zeit, dieses Leben und diese Geschichte, die ihn an Leda band. Er zerschlug die falschen Idole, verschloß sein Ohr für den Gesang der Undinen und versenkte, was ihn von Leda trennte, 2000 Faden tief im Meer. Sprach nicht Breton von einem Mann, der, um zu seiner Geliebten zu gelangen, erst einen ganzen Berg Wäsche aus dem Weg räumen muß? Das Leben, die Liebe, die Wäsche. Das war die ganze Geschichte.
13
Am Mittwochabend lag Aljoscha neben Leda und gut 50 weiteren Teilnehmern an einem Kurs in Hatha-Yoga auf dem blauen Mattenboden einer schwach beleuchteten Turnhalle und hing, während die aus den Lautsprechern erklingende Musik langsam den Raum verklebte, seinen Gedanken nach.
Er war Ledas Vorschlag, an diesen Yoga-Abenden teilzunehmen, anfangs mit Skepsis begegnet: erstens war er gegen solche Übungen im Kollektiv, und zweitens war das Kollektiv so groß und die Halle so klein, daß uninspirierte Umsetzung vorgeschriebener Bewegungsabläufe die Körperenergien leicht so umleitete, daß der Fuß des Nachbarn einen mit der ganzen Härte des kosmischen Gesetzes traf. Aber es war die Chance, einen Wochentag mit Leda auf die Habenseite zu bringen. Aljoscha sah sie nur noch an den Wochenenden.
Vor den Körperübungen stand die spirituelle Läuterung durch Meditation und Konzentration. Einen friedvollen Anblick boten diese 50 Adepten des Hatha-Yoga in der Balance zwischen Mond- und Sonnenenergie, abgekehrt vom Schleier ihrer Eindrücke. Aber die Gedanken, denen Aljoscha nachhing, waren Aufruhr, Verfehlung,
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