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Alkor - Tagebuch 1989

Titel: Alkor - Tagebuch 1989 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Kempowski
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jetzt, die setzen sich den Zylinder möglicherweise keck auf.«Spiegel»-Lyrik von Herrn Matussek:
    Sie reißt ein Streichholz an
und starrt in die Flamme;
in ihren Augen schimmert Mord.
    Nach einem Schnitt
starrt die Kamera selbst
von unten herauf.
    Sie spielte sich die Seele aus dem Leib.
Die Maura … keucht vor Lebenslust.
    Bedauerlich, daß mich das ankotzt, sonst würde ich den Artikel zu Ende lesen.«Wie kommt es eigentlich, Herr Matussek, daß Sie einen so brillanten Stil haben?»wird er im Fernsehen gefragt. Wie kommt es eigentlich, liebe Freunde, daß ihr allesamt den Arsch offen habt?

    Hildegard war bei der Schönheit in Bockel, sie kam ziemlich erschreckend wieder, als Ensorsche Maske. Es wird ein paar Tage dauern, bis normale Zustände wieder eingekehrt sind. Dorfroman: Der erste Buchfink. Ist es«Egon»? Sieht so aus. Die Katzen wetzen durchs Haus, jagen sich, rutschen dabei über die glatten Fliesen. Der Munterhund sieht ihnen zu. Manchmal wird ihm das zuviel, dann jagt er sie auch.

Nartum
Do 2. März 1989
    Bild: Boris krank!/Warum glaubt mir keiner?
    ND: Gutes Gefühl, verstanden und gebraucht zu werden / Kongreß der Unterhaltungskunst in Berlin
     
    Post: Ein Herr aus Hannover schreibt, seine Buchhändlerin habe ihn vor den«Hundstagen»gewarnt, das sei nichts für seinen erlesenen Geschmack.
    Ein Leser aus Brühl:«Sirius am Abendhimmel? Im August? Iss nicht: Die ‹Hunde› zeigen sich erst ab Ende Oktober (S. 93).»- In der Tat, die dichterische Freiheit hat hier den gesamten Kosmos umgestellt.
    Lassen wir’s stehen. Mal sehen, ob noch jemand draufkommt. Im Radio hörte ich eine Sendung über Harry Graf Kessler, dessen Tagebücher bis heute noch nicht alle veröffentlicht sind. Sie seien in rotes Leder gebunden, heißt es. Seine Mutter hat mit Kaiser Wilhelm I.«poussiert»- das ist wohl nicht der richtige Ausdruck. So wie Bismarck die Baronin Spitzemberg gern um sich sah - so wird’s gewesen sein.
    Kessler, der sein ganzes Leben lang generös stiftete, lieh und verschenkte, ist dann in der Nazi-Zeit quasi verhungert. Schrieb an seine Schwester, um Gottes willen, schick’ mir das Geld. - Wie sagte mein Bruder: Tue nichts Gutes, so widerfährt dir nichts Böses.

Nartum
Fr 3. März 1989
    Bild: Berlin: Computer-Hacker spionierten für die Russen / Erster Tag des neuen Parlaments/Demos, Proteste/Reps durch die Hintertür
    ND: Freundschaftliche Begegnung Erich Honeckers mit Jozef Lenárt
     
    Hildegard sagte gestern: einen älteren Herren könnte sie nicht heiraten. Ernst Jünger ja, aber sonst wüßt’ sie keinen. - Steht das denn zur Debatte?
    Lesung in Vegesack. Es war der Geburtstag eines Buchhändlers, den ich ausschmücken helfen sollte. Große Sache. Damen in Lang und Herrn im Smoking. Ich war fehl am Platz. Als ich auf der Bühne stand und las, unter mir eine Art Ballsaal-Atmosphäre, quatschten sie. Kellner liefen hin und her. Ich machte einfach weiter. Später spielte eine gewaltige Big Band. Dazu machte eine Vokalgruppe nicht unflott die Andrew-Sisters nach.
    Das Anachronistische dabei empfunden. Zum Jazz gehört die«Gefahr»der Nazi-Zeit. Jazz zu hören, wenn er verboten ist - das gab der Sache erst die richtige Würze. Vom«Dienst»nach Hause kommen, linksum-rechtsum …, sich die Schuhe ausziehen -«hoffentlich kommt kein Fliegeralarm»- und dann das Koffergrammophon aufziehen und«Echoes of Harlem»auflegen. - Und: Schellackplatten, mit Nadeln . Charlie Parkers sämtliche Werke auf zehn CDs für 200 Mark? Die Jazz-Gedächtnissendungen im Radio haben auch aufgehört. Die haben das jetzt auch kapiert. - Und dann kam ja noch die Angst vor der Schule dazu! Nächsten Morgen: erste Stunde Mathematik.
    Als ich am Tisch saß und an meinem Selter nippte, kam eine Dame, kniete nieder:«Darf ich Ihnen die Schnürsenkel zumachen? Ah, da sieht man den Schulmeister: Er hat die Schleife doppelt gebunden! »- Eine alte Tänzerin: Sie tanzt, weil sie die Wahrheit verkünden will, die sie allerdings gleichzeitig auch sucht, wie sie sagt. Wenn sie uns wenigstens vorführen würde, wie reizvoll der Kampf gegen die Schwerkraft sein kann.

    Spagat: Da muß ich an die unteren Organe denken, wie die sich dabei wohl ausnehmen.
    Die Leute wollen immer wissen, wieso und warum ich gesessen habe.
    Einzelne«Radiolarien»ergatterte ich. Soll ich sie«Seelenbilder»nennen? Das Plankton vermehrt sich.
    Langsam und nachdenklich nach Hause kutschiert. Ich schloß dann den Tag ab mit Mendelssohns 4. Symphonie

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