All die schoenen Toten - Ein Inspektor-Jury-Roman
schwören können, dass sechs Männer aufstanden, um sich zu ihr zu setzen. Doch als er sich rasch wieder umdrehte, hätte er ebenso schwören können, dass sie sich alle gleich wieder hinsetzten.
Wahrscheinlich bildete er es sich bloß ein. Trotzdem warf er gelegentlich ein Auge auf sie, während er wartete, dass der Barmann seine Bestellung aufnahm.
Er brachte die beiden Pints, stellte sie auf den Tisch und setzte sich hin.
Die Arme verschränkt, beugte er sich zu ihr hin. »Und jetzt, wo wir bei unserer Verabredung sind – worüber sollen wir reden?«
Carol-Anne nippte damenhaft an ihrem Bier. »Wer ist Phyllis?«
36. KAPITEL
Wiggins war schon einmal hier gewesen. Er kannte sich in der Küche aus und schien sich bei Myra Brewer bereits unentbehrlich gemacht zu haben. Wiggins hatte so etwas Umgängliches an sich: Das war es gewesen, was Jury ihm schon die ganze Zeit hatte sagen wollen.
Es war am darauffolgenden Morgen, und sie statteten Myra Brewer soeben einen Besuch ab.
»Wir haben keine Kekse mehr«, rief Wiggins.
Wir. Jury fand es köstlich.
»Ja, aber es sind Choc-o-lots da. Die mit Marshmallows.«
»Hab sie gefunden.«
Dann konnte man Wasser laufen hören, ein Teekessel wurde gefüllt. Diese Hingabe an ein Teestündchen störte Jury nicht. Trotz der todtraurigen Umstände machte das Myra Brewer nicht weniger sympathisch. Denn es war offenkundig, dass sie tief getroffen war von Kates Tod und der Art und Weise, wie sie umgekommen war.
Ein Teestündchen war demnach, besonders mit Wiggins in Aktion, das beste Heilmittel, das Jury aufbringen konnte. Manchmal sind es die Rituale, dachte er, die uns aufrechterhalten.
Jury saß in einem mit heidekrautgrauen, groben Stoff bezogenen Sessel in der kleinen Wohnung an der St. Bride Street, kaum zwei Straßen entfernt von Mr. Banerjees Laden an der Ecke. Myra Brewer, die Patin von Kate Banks, wohnte im zweiten Stock und hatte, wie sie erfahren hatten, Schwierigkeiten mit Treppen, mit diesen schändlich schadhaften Treppen, denn
der Handlauf zum ersten Absatz war abgebrochen und nie repariert worden. Sie sei in den Achtzigern und nicht mehr so »flink«, hatte sie Jury erzählt, was gewaltig untertrieben war.
»So einen guten jungen Menschen wie meine Kate, so was hat’s noch gar nie gegeben. Sie war ein echtes Goldstück, dieses Mädchen. Kommt jede Woche den ganzen Weg bis von Crouch End her, bei jedem Wetter – manchmal öfter – und hat für mich eingekauft. Nie ein böses Wort, immer hilfsbereit, ›Komm, Myra, ich saug dir schnell den alten Teppich.‹<
Vielleicht hab ich im Leben nicht das ganz große Los gezogen, aber Kate war mein Glück. Manchmal glaube ich, das Schlimmste am Altwerden ist nicht, dass man krank wird oder ohne einen Penny dasteht, sondern dass man vergessen wird. Dass keiner nach einem schaut.«
Es war eine der traurigsten Erkenntnisse über das Älterwerden, die Jury je gehört hatte. Und aufrichtig dazu. Sie dachte wohl, dass nun niemand mehr nach ihr schauen würde, behielt diesen Gedanken jedoch für sich. Aus ihren Worten klang kein Selbstmitleid.
Wiggins, die Jacke ausgezogen und in Hemdsärmeln, hatte sich ordentlich Mühe gegeben mit dem Teetablett, das er nun auf ein Sofatischchen stellte. »Bitte schön, Mrs. B. – alles fix und fertig.«
Mrs. B. nahm sich ein Choc-o-lot von einem Tellerchen.
»Hab auch ein paar Schnittchen gemacht. Schönes Mehrkornlaibchen haben Sie da.« Wiggins verteilte Untersetzer und Teetassen und goss in jede ein wenig Milch, hob dann fragend die Zuckerdose in die Höhe. Myra nahm zwei Löffel voll, Jury einen, Wiggins vier.
»Danke, Mr. Wiggins. Vielen Dank«, sagte sie, hob die Tasse an den Mund und schlürfte leise.
Jury stellte seine Tasse ab. »Also, Mrs. Brewer, Sie sagten, Kate war die Tochter einer Freundin?«
»Ganz recht«, sagte Wiggins.
Jury sah ihn strafend an, wusste jedoch, dass dies Wiggins nicht davon abhalten würde, sich auf Myra Brewers Seite zu schlagen.
»Eugenie«, sagte sie. »Eugenie Muldar.«
»Kate Muldar also. Und Kates Ehemann? Weiß er Bescheid?«
»Ach Gott, nein, sie sind doch seit über zehn Jahren geschieden. Johnny Banks hieß er.«
»Und die Scheidung, trägt er ihr die nach?«
Myra Brewer schüttelte den Kopf. »Nein. Sie hatten so jung geheiratet, dass sie wahrscheinlich alle beide erleichtert waren, als es aus war.«
»Verstehe.« Jury schwieg und überlegte, wie er die Frage stellen sollte. »Hatte Kate Ihres Wissens noch eine andere
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