All the lonely people
Er drückt ganz schlicht eine schmerzliche Erfahrung aus. Wenn ein Mensch gestorben ist, den wir lieben, dann hat
er
keine Probleme mehr. Wir aber müssen aushalten, dass wir ihn nie mehr in die Arme schließen, nie mehr mit ihm sprechen werden.
Als meine kleine Schwester starb, war sie sechs und ich zwanzig Jahre alt. Durch den großen Altersunterschied war ich für sie nicht nur die große Schwester gewesen, sondern ein bisschen auch ihre zweite Mutter, die sie behütete und versorgte. Als sie plötzlich starb, war es, als stürbe ein Teil von mir mit. Es war vor allem der Gedanke: »Du wirst sie nie wieder in den Armen halten«, der mich verzweifelt machte. Am Tage nach ihrer Beerdigung malte ich mit schwarzer Tusche ein Bild: Ein kleines Mädchen geht mit einem Teddybär unter dem Arm seinen Weg jenseits einer unüberwindlichen Mauer. Diesseits steht eine weinende Frau. Sie kann das Kind nicht mehr begleiten. |144| Auf dem Bild gab es nur meine Schwester und mich. Sie war gegangen, ich musste weiterleben.
»Du bist gegangen und hast mich völlig allein zurückgelassen«, diese Anklage gegenüber Toten habe ich später in den Psychotherapien noch oft gehört, ebenso wie den Satz: »Es war, als ob ein Teil von mir mitgestorben ist.« So einmalig unsere Trauer sich für uns anfühlt – wir teilen sie mit allen Frauen und Männern, die erfahren, dass der Tod sie von einem geliebten Menschen trennt, sei es der Partner oder die Partnerin, die Eltern, das Kind, der beste Freund oder die beste Freundin.
Wenn Sie jetzt gerade in tiefem Abschiedsschmerz stecken, dann mögen Sie das vielleicht nicht hören. Sie können sich schwer vorstellen, dass Ihre Trauer jemals enden wird. Sie glauben auch, dass sie mit nichts zu vergleichen ist. In gewisser Weise stimmt das. Sie und der Mensch, den Sie verloren haben, sind einmalig, und so ist es auch Ihre Trauer. Und doch müssen Sie nicht in diesem Zustand bleiben, sondern können mit aller notwendigen Zeit und Geduld auf dem gleichen Weg aus dem Leid und Einsamkeit herausfinden, wie vor Ihnen schon viele andere.
Die Phasen der Trauerarbeit
F ür unsere Seele ist Trauer die notwendige Reaktion auf den Tod eines geliebten Menschen. Mit ihr lösen wir uns nach und nach von dem, was uns mit ihm im Leben verbunden hat. Sie führt dazu, dass wir am Ende eine neue Lebensperspektive finden. In ihrem Verlauf sind die Phasen der Trauerarbeit jenen der Trennungskrise sehr ähnlich, so dass ich im Folgenden nur die Besonderheiten ergänzen möchte.
Auch hier gibt es die
erste Phase
, in der wir die Realität verleugnen. Wir glauben, gleich müsste die Person zur Tür hereinkommen. Wir hören ihre Stimme, sehen sie vielleicht sogar wie eine Halluzination. Automatisch handeln und sprechen wir so, als ob sie noch lebte. Erst ganz allmählich wird uns die Realität bewusst.
In der
zweiten Phase
brechen Gefühle auf. Genau wie bei einer |145| Trennung ist Verzweiflung die vorherrschende Emotion. Vor Schmerz und Sehnsucht werden wir fast verrückt. Auch Wut taucht auf, doch richtet sie sich eher gegen ein grausames Schicksal, gegen Gott, der das zugelassen hat, gegen diejenigen, die leben dürfen oder gegen die Freunde, die nicht sensibel genug reagieren. Immer wieder taucht die quälende Frage nach dem »Warum?« auf. Wir fühlen uns wie in einem dunklen Tunnel, dessen Ende wir nicht sehen können. Diese Phase dauert erfahrungsgemäß sehr lange.
Die
dritte Phase
bringt die Neuorientierung. Nach und nach fangen wir an, wieder vorsichtig nach außen zu gehen. Wir unternehmen Dinge, die nicht nur dem Überleben dienen. Die Zeitspanne, während der wir vergessen können, wird immer größer.
Für die
vierte Phase
ist kennzeichnend, dass wir unser inneres Gleichgewicht wieder gefunden haben. Mit Wehmut und Liebe denken wir an die Vergangenheit. Wir wissen aber auch, dass unser Leben sinnvoll weitergehen wird.
Es wäre wunderbar, wenn diese Phasen automatisch ablaufen würden. Dann müssten wir nur durchhalten, und nach einer angemessenen Zeit hätten wir es geschafft. Leider ist das selten der Fall. Nicht umsonst spricht man in der Psychologie von »Trauerarbeit«. Das heißt, dass wir uns auf unsere Trauer einlassen, sie durcharbeiten müssen. Leicht wird uns das allerdings auch von außen nicht gemacht.
Trauern ist tabu
I m Gegensatz zu östlichen Kulturen, in denen die Trauer ritualisiert ist, gibt unsere Gesellschaft uns bei der Trauerarbeit kaum Unterstützung. Im Gegenteil: Sie
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