All the lonely people
dich lieben, wenn ich dich nicht sehe?« Rogers hat sich Zeit seines Lebens dafür eingesetzt, dass Menschen wagen, ihre Fassaden abzubauen. Dazu hat er sogar eine ganz eigene Form geschaffen, die er
encounter
, Begegnung, nannte. Für mehrere Tage kommen Menschen in einer angenehmen Umgebung zusammen. In manchen Fällen handelt es sich um feste |169| Gruppen, zum Beispiel, Manager, Lehrer, Sozialarbeiter oder Gefängnisinsassen. Es treffen sich aber auch solche, die sich noch nicht kennen und die einfach lernen wollen, sich zu öffnen und Zugang zu anderen zu finden. Für alle Zusammenkünfte gilt, dass es zwar einen Leiter oder eine Leiterin gibt, diese aber keine inhaltlichen Vorgaben machen. Er oder sie sorgt lediglich dafür, dass jeder zu Wort kommt und ein Klima der Offenheit und des Wohlwollens herrscht. Ähnlich wie gute Eltern ihre Kinder in Freiheit spielen lassen, aber darauf achten, dass sie sich nicht gegenseitig verletzen.
Während meines Psychologiestudiums habe ich an solchen Encounters teilgenommen und sie später als Lehrbeauftragte an der Uni Hamburg auch mit Studenten durchgeführt. Ich fand es unglaublich beeindruckend, wie sich die Menschen und auch ihre Beziehung zueinander veränderten, sobald sie es wagten, ihre irrealen Ängste abzulegen und offen über sich zu sprechen. Plötzlich schwanden Gefühle der Abneigung. Vorurteile wurden beseitigt. Sogar optisch war eine Veränderung sichtbar, die Gesichter wirkten jünger und entspannter.
Die Angst, lästig zu fallen
Z ur irrealen Angst gehört auch die Vorstellung, anderen lästig zu fallen, sobald man über seine Sorgen und Problemen spricht. Ich habe erlebt, dass selbst gute Freundinnen sich damit schwertaten. Sie entschuldigten sich etwa mit den Worten »Ich will dich damit nicht ausnutzen« oder stoppten sich selbst nach kurzer Zeit mit den Worten »Nun lassen wir das Thema aber!«
Ich habe noch nie erlebt, weder bei mir noch bei anderen, dass ein echtes Gespräch über persönliche Probleme lästig war. Wenn wir ehrlich fragen, um Rat bitten, eine innere Not offenbaren, appellieren wir in unserem Gegenüber an seine menschliche Solidarität. Es ist eine Freude und eine Ehre, jemanden zu unterstützen, der sich an uns wendet. Er zeigt uns damit ja, dass er uns Hilfe und Weisheit zutraut. So wird es auch von den meisten Menschen empfunden.
Lästig ist dagegen etwas ganz anderes: Wenn Sie immer wieder die |170| alten Probleme auf den Tisch bringen, ohne etwas zu verändern. Niemand hat Lust, ewig den seelischen Mülleimer zu spielen.
Lästig ist es auch, wenn Sie nicht darauf achten, in welcher Situation sich jemand befindet. Eine Mutter, die gerade ihr kleines Kind zu Bett bringen will, ein Freund, der an einer wichtigen Arbeit sitzt, ein todmüder Partner oder eine Freundin mit Kopfschmerzen sind kaum in der Lage, sich auf Sie einzustellen.
Falls Sie Angst haben, lästig zu sein, gibt es eine ganz simples Methode, das zu überprüfen: Fragen Sie nach. Wer die Frage »Hast du eine Stunde Zeit für mich?« bejaht, ohne dass es stimmt, ist selbst schuld.
Wagen Sie es
S ie wissen jetzt, was notwendig ist, um sich aus Ihrer inneren Isolation zu befreien. Nun bleibt nur noch eines: Sie müssen Ihr Wissen anwenden und handeln.
Vor Jahren war ich als Expertin in einer Talkshow von TV-Pastor Jürgen Fliege eingeladen. Unter den weiteren Gästen war auch Galsan Tschinag, ein mongolischer Dichter und Sänger. Er hatte in Leipzig Germanistik studiert und sprach daher sehr gut Deutsch. Der zierliche Mann mit den asiatischen Gesichtszügen stand auf der Bühne vor dem Publikum und gab eine Kostprobe seiner Kunst. Anschließend fragte ihn der Moderator, warum er eigentlich dichtet und singt. Tschinag nannte ganz offen sein Motiv: »Ich bin einsam.« In diesem Moment zeigte er ein großes Selbstvertrauen, das viele Zuschauer beeindruckte. Er verkörperte etwas, das wir niemals vergessen sollten: Wer sich wirklich zeigt, mitsamt seinen Schwächen, ist stark.
Die Therapeutin Susan Page bestätigt: »Die Wahrheit, beispielsweise seelische Ängste, ist fast immer schwierig. Deshalb braucht man auch so viel Energie, um sie zu verbergen beziehungsweise sie zu maskieren. Und darum fühlt man sich auch so verletzlich, wenn man die Wahrheit preisgibt. Doch gerade das macht einen frei. Demnach ist Verletzlichkeit ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Selbstliebe, zur Intimität und zu einem tiefen inneren Frieden. Was für eine Welt wäre |171| es wohl,
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