All the lonely people
Volksgenossen« anhören musste.
Auch Kinder mit Übergewicht, mit Sprachfehlern und solche, die |32| schwächlich sind, sich nicht gut bewegen können, chronisch krank sind oder Hautprobleme haben, ziehen Ablehnung auf sich.
Wenn Sie als Kind unter einem Handicap gelitten haben, dann wissen Sie, wovon ich rede. Sie können sich gewiss auf der Stelle Szenen vorstellen, in denen Sie die Reaktion auf Ihren körperlichen Makel schmerzhaft erlebt haben. Vielleicht haben Sie Ihr Defizit kompensiert, etwa durch ein freches Mundwerk oder besondere Leistungen. Das mindert jedoch nicht die Wahrscheinlichkeit, dass Sie sich innerlich zurückzogen haben.
Entsprach Ihre Familie nicht der Norm?
N icht immer liegt es direkt an unserer Person, dass uns die Gruppe, in der wir leben, ausgrenzt. Manchmal leiden wir unter einer regelrechten »Sippenhaft«. Die Eigenheiten unserer Familie sind dafür verantwortlich, wie man uns behandelt.
Im Gymnasium hatte ich eine Mitschülerin, die wie vom anderen Stern wirkte. Ihre Eltern stachen in ihrer Lebensweise von den normalen Kleinstädtern ab. Sie gehörten zu den Anthroposophen. Damals waren esoterische Richtungen noch unbekannt und die Toleranz dafür gering. Camilla trug keine normalen Kleider, sondern selbstgestrickte wollene Gewänder. Außerdem roch sie immer intensiv nach undefinierbaren Kräutern mit der Kopfnote Kampfer. Partys oder Disco waren für sie tabu. Wegen der strengen Gerüche wollte niemand neben ihr sitzen, und bei den üblichen Unterhaltungen konnte sie nicht mitreden. Camilla war ziemlich isoliert.
Zum Außenseiter aus familiären Gründen wird man immer dann, wenn sich die Familie von der übrigen Umgebung abhebt, zum Beispiel durch den Dialekt. Ein Kind mit norddeutscher Aussprache hat es schwer, in einem bayrischen Dorf akzeptiert zu werden. Oder durch die Religion: Evangelische Christen bleiben oft lange Zeit Fremde in rein katholischen Gegenden – und umgekehrt.
Ein ausgrenzendes Element ist auch die Armut. Der Modedesigner Wolfgang Joop beschrieb in einem Interview, wie sehr er im Internat unter der Missachtung seiner wohlhabenden Mitschüler gelitten hat. |33| Während diese in Markenkleidung auftraten, musste er alte Sachen auftragen. Er rettete sich, indem er aus der Not eine Tugend machte und das als etwas Extravagantes darstellte.
Für ein Kind ist es besonders schwer, durch die eigene Familie isoliert zu werden. War das bei Ihnen der Fall, so wissen Sie, wie sehr man zwischen der Loyalität zur Familie und der Sehnsucht, doch auch zu den anderen zu gehören, zerrissen wird. Zwischen beiden Stühlen sitzend fühlt man sich sehr einsam.
Sind Sie sicher, dass Ihre Verletzungen nur leicht waren?
B ei den nur zu deutlichen Verletzungen gelingt es sicher leichter, eine Verbindung zur Gegenwart herzustellen. Dagegen erscheinen die üblichen Beeinträchtigungen in der Kindheit oder Jugend nahezu harmlos. Wenn in meinen Seminaren die Teilnehmer und Teilnehmerinnen Erfahrungen austauschten, dann gab es immer einige, die sagen: »Wenn ich höre, was die anderen hier erlebt haben, dann kommen mir meine Erlebnisse ganz unwichtig vor.« Ich sehe das anders. Es gibt keine emotionalen »Peanuts«. Viel eher haben wir einen blinden Fleck oder spielen vor uns selbst herunter, wie sehr wir damals unter scheinbar normalen Verhältnissen gelitten haben.
Häufig habe ich auf der Suche nach Gründen für gegenwärtige Probleme gehört: »Also, an meiner Kindheit kann das nicht liegen, die war wunderbar.« Wenn mein Gegenüber mir dann Details aus seiner wunderbaren Kindheit berichtete, bekam ich eine Gänsehaut. Zum Beispiel als Hanna mir amüsiert erzählte, wie ihre Eltern sie während des Krieges bei einem Luftangriff einfach im Garten vergessen hatten und nur ihren Bruder mit in den Luftschutzkeller mitnahmen. Zum Glück ist es ihnen dann aber doch noch rechtzeitig eingefallen. Oder als Marla lebhaft und witzig schilderte, wie sie sich als Schlüsselkind lange Nachmittage selbst unterhielt, indem sie mit verschiedenen Stimmen in die Rollen von Radiomoderatorinnen schlüpfte.
Solche Erlebnisse kann man zwar verharmlosen, aber damit sind sie noch lange nicht unwirksam.
|34| Auswirkung auf die Gegenwart
W enn Ihnen bewusst ist, dass Ihre Einsamkeit mit Verletzungen aus der Kindheit zusammenhängt, sind Sie schon weiter als viele andere. Oft setzen wir nämlich als Erwachsene die Strategie fort, die uns damals das seelische Überleben gesichert hat: Wir
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