All unsere Traeume - Roman
Mist«, sagte die Frau. »O nein, es tut mir leid. Ich habe was Falsches gesagt. Ich bin eine Idiotin. Es tut mir leid.«
»Nein«, schluchzte Romily. »Nein, es liegt nicht an dir. Es liegt an mir. Es ist schon okay.«
Sie machte Anstalten, sich die Nase an ihrem Ärmel abzuwischen, doch die Frau reichte ihr, bevor sie es tun konnte, ein Mulltuch.
»Ich deute Situationen immer falsch«, erklärte die Frau. »Das sagt mir jeder. Ich habe hier irgendwo ein bisschen Schokolade. Hier.« Sie hielt ihr eine Packung mit Schokodrops entgegen. »Lass bloß Daniel nicht sehen, dass du sie isst, sonst musst du teilen.«
»Ist schon okay.«
»Tja, offensichtlich ist es das nicht. Kann ich dir sonst noch irgendwie helfen?«
Romily schüttelte den Kopf und wischte sich über das Gesicht. Das Mulltuch roch nach Babylotion.
»Komm schon. Ich möchte dir wirklich gern helfen. Wenn du schon keine Schokodrops annehmen kannst, dann sag mir wenigstens, was los ist.«
»Ich kann das Baby nicht behalten«, platzte es aus Romily heraus.
»Oh.«
»Es ist nicht meins, ich bin nur Leihmutter. Aber ich habe nichts gesagt, weil …«
»Oh. Tja, das ist natürlich wahnsinnig lieb von dir, ich meine, es ist geradezu unglaublich!«
»Ich will es nicht hergeben.«
»Oh.«
»So, das ist der Grund, warum ich weine. Ein Grund. Den anderen kann ich dir nicht verraten.«
»Ich finde, du solltest die Schokodrops besser nehmen. Ich heiße übrigens Eleanor.«
Romily spürte, wie ihr die Packung in die Hand gedrückt wurde.
»Du musst mich für einen schrecklichen Menschen halten«, sagte sie.
»Nein, tatsächlich finde ich es ziemlich verständlich. Du hast also doch so eine Art gebrochenes Herz. Ich nehme es zurück: Sodbrennen ist viel besser. Putz dir ruhig die Nase mit dem Tuch. Ich habe tausend davon.«
Romily putzte sich die Nase. Sie sah die Frau durch einen Tränenschleier an.
»Könntest du es ihnen erzählen?«, fragte sie. »Den anderen Müttern? Ich glaube nicht, dass ich es kann.«
»Okay. Bist du dir sicher, dass du das möchtest?«
»Ja«, antwortete Romily. »Wird Zeit, dass sie die Wahrheit erfahren.« Sie stopfte sich das Mulltuch in die Jacken tasche. »Ich gebe dir das hier zurück, wenn ich es gewaschen habe.«
Die Wahrheit, dachte sie, als sie ins Museum eilte. Schließlich war sie Wissenschaftlerin. Eigentlich sollte sie mit Tatsachen und Fakten vertraut sein, mit Verhaltensmustern und Gesetzmäßigkeiten. Sie wusste, dass die Wahrheit objektiv war, die Wahrheit war die Art, wie die Welt funktionierte. Die Wahrheit lautete, dass Ben mit Claire verheiratet war und dass sie versprochen hatte, ihnen dieses Baby zu geben. Sie hatte die Wahrheit immer gekannt.
Und die ganze Zeit über schrieb sie unentwegt ihre tiefs ten Gefühle nieder, ihre unlogischen, nicht vertretbaren, unerträglichen Gefühle, als würde das auch nur im Geringsten helfen.
Gefühle taten weh. Auch wenn man sich durch die Niederschrift vorübergehend Erleichterung verschaffte, war es das nicht wert. Denn sobald Gefühle dort draußen in der Welt waren, wurden sie real. Sie wurden Teil der Wahrheit.
Und dann musste man sich ihnen stellen. Man musste die Demütigung am eigenen Leib verspüren, die Demütigung einer anderen Frau, die herausfand, dass man das wollte, was ihr gehörte. Die Schande, der Selbsthass, die Wut, der verzweifelte Wunsch, das eigene ärmliche Ge heimnis zu verbergen, die kranke, kümmerliche, hoffnungslose Liebe, die man völlig grundlos gehegt hatte.
Hal blickte auf, als sie an seinem Schreibtisch vorbeikam. »Wie geht es der Bienenkönigin heute?«
»Bienenköniginnen beherrschen die Kolonie und dienen ihr«, sagte sie. »Sie arbeiten aus einem rein biologischen Zwang heraus, ohne freien Willen. Ich finde die Metapher nicht sonderlich passend.«
»Schlechte Laune.«
»Wenn Sie in der sechsunddreißigsten Woche schwanger wären, wären Sie auch schlecht gelaunt.«
»Wenn ich in der sechsunddreißigsten Woche schwanger wäre, wäre ich längst in Mutterschutz gegangen und würde auf dem Sofa liegen und fernsehen.«
»Ich gehe nicht in Mutterschutz. Das habe ich nicht nötig.« Die ganze Zeit allein. Ohne Arbeit, um sich abzulenken.
Wie Claire.
Sie betrat den Lagerraum der Sammlung und schloss die Tür. Sie legte den Kopf auf Amitys Rosenholzvitrine, auf die Leichen Hunderter Insekten.
Als Claire in den Zug nach London gestiegen war, hatte sie sich geschworen, dass sie nicht ans Telefon gehen würde. Sie würde
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