All unsere Traeume - Roman
nicht mit Ben sprechen, falls er anriefe. Sie würde nicht mit Romily sprechen. Sie würde es auch nicht schaffen, mit ihrer Mutter oder ihrer Schwester zu sprechen. Sie würde ein Wochenende in London verbringen, fernab von ihrem leeren Haus, in einem hübschen Hotel. Sie würde Galerien und Konzerte besuchen, sie würde ihre Kreditkarte belasten, sie würde ihre Wunden lecken und sich Kunst und Musik und das Essen anderer Leute einverleiben. Sie brauchte Platz, brauchte Freiraum, um sich zu überlegen, was sie wirklich wollte. Wie es vielleicht weitergehen könnte in ihrem Leben, mit einem Ehemann, der in eine andere Frau verliebt war, und einem Baby, das sich immer noch im Bauch ebendieser anderen Frau befand.
Schließlich klingelte ihr Handy einmal. Es war ihre Schwester. Mit einem schlechten Gewissen entsann Claire sich, dass sie eigentlich mit ihr hätte besprechen sollen, was sie ihren Eltern zu Weihnachten schenken würden. Doch sie konnte nicht reden, ohne sich zu verraten. Sie war sich noch nicht einmal sicher, ob sie über Weihnachten nach Hause fahren könnte. Ohne Ben zu fahren, war unvorstellbar. Sich mit besorgter Familie zu umgeben, ihre Wunden offen und für alle sichtbar zu zeigen. Von ihrer Mutter würde sie vielleicht kein Ich habe es dir ja gleich gesagt zu hören bekommen – wahrscheinlich nicht, dafür war sie zu gutmütig –, aber für Claire würde es mitschwingen. Ihre Mutter hatte sie als Kind nie bestrafen müssen, im Gegensatz zu Helen und Ian. Claire schickte sich immer selbst in die Ecke.
Bis Weihnachten sind es noch über drei Wochen. Bis dahin könnte sich alles wieder eingerenkt haben, sagte ihr eine leise hoffnungsvolle Stimme, während sie durch die Tate Britain ging, ohne die Gemälde überhaupt wahrzunehmen.
Doch sie konnte es sich nicht vorstellen.
Es war zu viel Freiraum in London, zu viel Platz, und keiner gehörte ihr. Fernab von zu Hause konnte sie nicht nachdenken. Sie verlor sich – zwischen zu vielen Stimmen und Geräuschen, zu viel Verkehr, zu vielen Ideen. Sie aß nicht gern allein in Restaurants, und auf dem Zimmer war es zu ruhig, wenn sie nicht den Fernseher einschaltete. Sie schrieb ein Dutzend SMS an Ben und löschte sie alle wieder. Sie klickte auf seine Nummer, rief aber nicht an, als würde ihn das wie durch Magie dazu bringen, sie anzurufen, damit sie sich weigern konnte, ans Telefon zu gehen. Damit sie wüsste, dass er an sie dachte. Dass er nicht bei Romily war.
Denn wohin sonst würde er gehen?
London war unerträglich, doch als sie in den Zug nach Hause stieg, fühlte sie sich auch nicht besser. Sie holte ihren Wagen aus der Tiefgarage und fuhr nach Hause. Bens BMW stand in der Auffahrt, so wie immer. Ihr Herz tat einen freudigen Sprung, doch es wurde im gleichen Moment wieder schwer. Bevor sie das Haus betreten konnte, öffnete er die Tür, und dann standen sie dort, auf beiden Seiten der Schwelle ihres Zuhauses. Sie trug ihre Reisetasche, und er trug einen Koffer.
»Hi«, sagte er. Es war Ben, es war ihr Ehemann, ihre einzige Liebe, und er sah aus, wie er immer aussah. Er nahm sie nicht in den Arm, um sie zu küssen. Er wirkte wachsam, als sei er bei etwas ertappt worden.
»Ich war in London«, meinte sie.
»War es schön?«
»Ich …«
Er nickte. »Ich bin gekommen, um ein paar Sachen zu packen.«
»Wo … warst du?«
»Im George in der Stadt.«
Es war von Romilys Wohnung aus auf der entgegengesetzten Seite von Brickham. »Hast du dich mit …«
»Ich habe mich mit niemandem getroffen. Ich habe das ganze Wochenende nichts anderes gemacht als nachzudenken.«
Es war unglaublich, dass er einfach aussah wie immer. Claire hatte das Gefühl, wenn sie lächelte, wenn sie ihn berührte, könnten sie einfach so weitermachen wie bisher. Doch da war etwas zwischen ihnen, irgendeine Membran, durch die sie nicht hindurchkam. Ein gegenseitiges Einvernehmen, dass all die Jahre irgendwie nicht zählten. Es war, als wäre ihnen die Gewohnheit des Verheiratetseins abhandengekommen, als wäre das alles gewesen, was sie zusammengehalten hätte, und da sie es nun zerstört hatten, konnten sie es nicht zurückholen.
»Das hier ist seltsam«, meinte Ben. »Es ist furchtbar.«
Da er es gesagt hatte, konnte sie ihm nicht zustimmen, obwohl sie genauso dachte. Schließlich war sie es gewesen, die ihn hinausgeworfen hatte.
»Was wirst du tun?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht. Ich kann nicht ewig im George bleiben. Das Frühstück ist
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