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All unsere Traeume - Roman

All unsere Traeume - Roman

Titel: All unsere Traeume - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Cohen
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Lehrerzimmer, um in der Pause eine Tasse Tee zu trinken. Um sie her wogten plappernde Schüler. Da sah sie Georgette, die ein Stück weiter vorn aus ihrem Klassenzimmer auf den Korridor trat – die schmalen Schultern und Hüften, die zu einem Ballerinadutt verknoteten braunen Haare. Während Geor gette die Tür schloss, erblickte sie Claire und riss neugierig die Augen auf. Claire blieb stehen, als wäre ihr soeben etwas eingefallen, und vollführte eine halb frustrierte, halb entschuldigende Geste mit den Händen. Dann machte sie kehrt und ging in die Richtung, aus der sie gekommen war.
    »Machst du keine Pause?«, erkundigte sich Lindsay, die im Eingang zum Musiktrakt an ihr vorbeiging. Claire schüttelte den Kopf.
    »Ich bin in den Ferien kaum zum Korrigieren gekommen«, antwortete sie.
    »Ich bring dir einen Kaffee mit. Und einen Keks.«
    »Danke.«
    Lindsay war reizend, Anfang zwanzig und hatte gerade erst an der St. Dominick’s angefangen. Sie war für den Gesangsunterricht zuständig. Claire fragte sich, ob sie sich während der Pause im Lehrerzimmer mit Georgette unterhalten würde. Falls dem so wäre, würde sie möglicherweise nicht nur eine Tasse und einen Keks mitbringen, sondern auch ein paar Fragen.
    Nach allem, was geschehen war, hatte Claire Georgette völlig vergessen und dass diese von Claires plötzlichem Verschwinden von der Babyparty wusste. Als Lateinlehrerin arbeitete Georgette nur mit halber Stundenzahl, und ihre Wege hatten sich bisher nicht gekreuzt. Georgette hatte es offensichtlich ebenfalls vergessen, aber jetzt würde sie während der Pause darüber reden. Es würde neugierige Blicke im Lehrerzimmer geben und diskrete Nachfragen, wie es ihr ginge. Claire musste gewappnet sein.
    Doch was sollte sie sagen? Ja, ich war durch den Wind, weil wir das Baby verloren haben, aber jetzt ist alles bestens, denn Bens Freundin hat angeboten, ein Baby für uns zu bekommen?
    St. Dominick’s war eine wunderbare Schule. Das sagten alle: einfach wunderbar. Das Gelände war wunderbar, der Internatstrakt war wunderbar, die Schüler waren wunderbar, die Eltern waren wunderbar. Auch wenn es seit ein paar Jahren keine katholische Schule mehr war, wurde in dem Schulführer immer noch die fürsorgliche Atmosphäre betont, der Gedanke der tätigen Nächstenliebe. Aber Claire hatte die Erfahrung gemacht, dass diese Nächstenliebe sich oft darauf beschränkte, dass man über den Nächsten ausgiebig tratschte.
    Es war im Grunde das Gleiche gewesen, als sie selbst noch zur Schule gegangen war. Sie erinnerte sich an geflüsterte Nachrichten, heimliche Mitteilungen. Der Unterschied bestand darin, dass sie damals Kinder gewesen waren und dass sich keines der Gerüchte um sie gedreht hatte.
    Einer ihrer Neuntklässler saß in der Ecke des Klassenzimmers, den Kopf mit der Igelfrisur über ein Blatt Notenpapier gebeugt. So hatte er schon die ganze letzte Unterrichtsstunde dagesessen. Er sah auf, als Claire eintrat und auf das Pult zuging, auf dem sie ihren Laptop gelassen hatte. »Machst du keine Pause, Max?«, fragte sie, indem sie automatisch einen freundlichen Tonfall annahm. Sosehr sie sich auch insgeheim darüber beklagte, dass jeder an der Schule seine Nase in die Angelegenheiten anderer Leute steckte, liebte sie doch die Musik, und sie liebte die Schüler. Es war eine gute Arbeit. Sie war wunderbar .
    »Ich wollte noch ein bisschen weiterarbeiten«, antwortete Max.
    »Das ist in Ordnung, aber ich hätte gedacht, dass du dich freust, nach den Ferien deine Freunde wiederzusehen?«
    Er zuckte die Schultern und schrieb weiter.
    »Hattest du schöne Osterferien?«
    Max zuckte wieder die Schultern. »Langweilig«, sagte er mehr zum Tisch als zu ihr. Sie konnte sehen, dass er Noten schrieb – er hatte bereits das halbe Blatt beschrieben. Bisher hatte er recht halbherzig im Unterricht mitgearbeitet. Deshalb freute es sie, dass er sich bei dieser Hausaufgabe Mühe gab. Die meisten Kinder fanden es sehr schwierig, sich selbst eine Melodie auszudenken.
    »Stört es dich, wenn ich hier am Computer sitze, während du arbeitest?«
    Er grunzte. Seine Körpersprache war das klassische pubertäre »Mir doch egal«, also ließ sie sich vor ihrem Laptop nieder und loggte sich ein, wobei sie den Bildschirm so drehte, dass Max ihn nicht sehen konnte.
    Es gab so viele Informationen, so viele Selbsthilfegruppen, so viele Diskussionsforen. Im Internet käme man kaum auf den Gedanken, dass die meisten Menschen es schafften, ohne die

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