Allan Quatermain
Seite befand. Unmittelbar neben ihm erkannte ich das blasse Gesicht der kleinen Flossie, die genau da saß, wie der Späher es beschrieben hatte; nämlich etwa zehn Schritt von der Mauer entfernt. Sie war umringt von schlafenden Masaikriegern. Über den ganzen Kraal verstreut befanden sich die Überreste von Lagerfeuern. Um jede dieser Feuerstellen herumgruppiert lagen je ungefähr fünfundzwanzig Masai und schliefen. Die meisten von ihnen hatten sich fürchterlich den Bauch mit Rinderfleisch vollgeschlagen. Bisweilen reckte sich da und dort einer der Krieger, setzte sich auf, gähnte, blickte zum östlichen Horizont, der inzwischen bereits eine blaßgelbe Färbung angenommen hatte, und legte sich wieder hin. Ich beschloß, noch fünf Minuten zu warten; und zwar aus zwei Gründen: zum einen würde es bis dahin so hell geworden sein, daß man exakt zielen konnte; zum zweiten, um Good und seiner Gruppe – von der ich nichts hören oder sehen konnte – genug Zeit zu lassen, bis sie losschlagen konnten.
Die stille Dämmerung begann, ihren immer größer werdenden Mantel über Feld und Wald zu legen – schon schaute der mächtige Mount Kenia aus seiner Hülle ewigen Schnees über das Land –, bis mit einem Male ein Strahl der noch nicht aufgegangenen Sonne seinen in den Himmel ragenden Gipfel traf und ihn in blutiges, purpurnes Rot tauchte; der Himmel über uns wurde allmählich blau; sanft wie das Lächeln einer Mutter schaute er auf uns herab. Ein Vogel stimmte sein Morgenlied an, und eine leichte Brise wehte durch das Buschwerk, um mit Millionen herabfallender Tautropfen die erwachende Welt zu erquicken. Überall war Friede, kündigte die Natur das Erwachen ihrer gewaltigen Kraft an, überall erhob sich das Glück des heranbrechenden Tages. Überall – nur nicht in den Herzen grausamer Menschen!
Plötzlich – ich wartete gespannt auf das Signal zum Angriff und hatte mir schon meinen Mann herausgesucht, auf den ich zuerst das Feuer eröffnen wollte – ein großer Bursche, der nur drei Fuß neben der kleinen Flossie ausgestreckt auf der Erde lag – begannen Alphonses Zähne wieder zu klappern wie die Hufe einer galoppierenden Giraffe. Es machte in der Stille einen entsetzlichen Lärm. Er hatte vor lauter Angst den öligen Lappen aus dem Mund fallen lassen. Sofort wachte ein Masai, der nur drei Schritte von uns entfernt lag, auf, räkelte sich hoch und schaute mit verschlafenem Blick um sich, um nach der Ursache des Geräusches zu suchen. Außer mir vor Wut, hieb ich dem Franzosen den Kolben meines Gewehrs in die Magengrube. Das hatte zwar zur Folge, daß das Geklappere mit einem Schlag aufhörte; aber als er sich vor Schmerz krümmte, brachte er es zu allem Überfluß auch noch fertig, sein Gewehr so fallen zu lassen, daß sich ein Schuß löste. Die Kugel pfiff nur knapp einen Zoll an meinem Ohr vorbei.
Nun bedurfte es keines Signals mehr. Von beiden Seiten des Kraals donnerte eine wogende Feuerlinie los. Ich selbst hielt genau auf meinen Masai, der direkt neben Flossie lag, und erwischte ihn gerade in dem Augenblick, als er aufspringen wollte. Im selben Moment ertönte vom anderen Ende des Kraals her ein markerschütternder Schrei, in dem ich zu meiner Freude Goods Stimme wiedererkannte, die laut gellend den Kampfeslärm übertönte. Und dann spielte sich eine Szene ab, wie ich sie nie zuvor gesehen hatte und auch wohl nie wieder sehen werde und sehen möchte. Unter panischen Entsetzensschreien sprangen die Masaikrieger auf die Füße. Es war ein einziges Knäuel wirbelnder, sehniger Gliedmaßen, aus dem sich einer nach dem anderen löste. Viele von ihnen stürzten, getroffen vom Kugelhagel unseres wohlgezielten Feuers, sofort wieder zu Boden, noch bevor sie auch nur einen Schritt tun konnten. Einen Moment lang standen sie unschlüssig da. Aber als sie die Schreie und Flüche hörten, die unablässig vom anderen Ende des Kraals herüberschallten, stürzten sie völlig verwirrt und von dem Kugelhagel, der einen nach dem anderen von ihnen zu Boden riß, in wilde Panik versetzt, wie aus einem Impuls auf den dornenbewehrten Eingang zu. Während sie liefen, feuerten wir, was die Gewehre hergaben, in den immer dichter werdenden Pulk und rissen tiefe Lücken in die Reihen der Masai. Wir schossen so schnell wir nachladen konnten. Ich hatte die zehn Schüsse meines Repetiergewehrs abgefeuert und begann gerade mit dem Nachladen, als mir der Gedanke an Flossie durch den Kopf schoß. Ich blickte auf und sah den weißen
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