Allan Quatermain
steiler Felsen aus Granit auf, dessen Höhe wohl zweihundert Fuß betrug. Früher hatte er sicherlich einmal selbst das Flußufer gebildet – den Streifen Land, auf dem sich jetzt Docks und Fahrdämme befanden, hatte man wohl trockengelegt, indem man den Fluß eingedeicht und sein Bett vertieft hatte.
Auf dem Vorsprung dieses Felsens stand ein großes Gebäude, das aus demselben Granit wie der Felsen errichtet war. Es bestand aus drei rechtwinklig zueinanderstehenden Flügeln. Die vierte Seite war offen, abgesehen von einer Art Brustwehr, an deren Fuß sich eine kleine Tür befand. Wie wir später erfuhren, war dieser imposante Bau der Palast der Königin, oder richtiger, der Königinnen.
Hinter dem Palast erstreckte sich auf einem sanft ansteigenden Hügel die Stadt, in deren Hintergrund sich ein prunkvoll leuchtendes Gebäude aus weißem Marmor erhob, dessen Krone die goldene Kuppel bildete, die wir vorher schon von weitem gesehen hatten. Die gesamte Stadt war, mit Ausnahme dieses einen Gebäudes, ganz aus rotem Granit errichtet; sie war in regelmäßigen Rechtecken angeordnet, zwischen denen sich herrliche Straßen hinzogen. Soweit wir erkennen konnten, waren die Häuser alle einstöckig und freistehend. Sie waren ausnahmslos von Gärten umgeben, die das vom monotonen Anblick des roten Granits ermüdete Auge erquickten. Von der Rückenseite des Palastes ausgehend zog sich eine Straße von außerordentlicher Breite etwa anderthalb Meilen bergan. Sie mündete in einen offenen Platz, der das weiß leuchtende Gebäude, das den Hügel krönte, umgab. Aber direkt vor uns lag das, was die eigentliche Pracht und Herrlichkeit von Milosis ausmachte – der große Treppenaufgang des Palastes, dessen kühner Glanz uns fast den Atem raubte. Der geneigte Leser möge sich, wenn er dazu in der Lage ist, eine herrliche Treppe vorstellen, fünfundsechzig Fuß von Balustrade zu Balustrade, bestehend aus zwei gigantischen Fluchten, von denen jede hundertfünfundzwanzig Stufen hat, je acht Zoll hoch und drei Fuß breit, zwischen denen sich ein Ruheplatz von sechzig Fuß Länge befindet. Er möge sich weiter vorstellen, daß diese ungeheure Konstruktion, die sich von der Palastmauer auf dem oberen Rand des Felsens bis hinunter zu einem Wasserweg oder Kanal, den man eigens dazu an ihrem Fuße gegraben hatte, erstreckte, auf einem einzigen gewaltigen Bogen aus Granit ruht, dessen Schlußstein der Ruheplatz zwischen den beiden Fluchten bildet; das heißt, der die beiden Fluchten verbindende Platz liegt genau auf der höchsten Krümmung des Granitbogens! Aus diesem Bogen wuchs ein freischwebender Stützbogen, oder besser etwas, das von der Form her einem freischwebenden Bogen ähnlich war, wie es nie zuvor jemand von uns irgendwo auf der Welt gesehen hatte, und dessen Schönheit und Großartigkeit alles, was wir uns überhaupt je hatten vorstellen können, weit in den Schatten stellte. Dreihundert Fuß von einem Ende zum anderen, und nicht weniger als fünfhundertfünfzig, wenn man entlang der Krümmung maß, schwang sich dieser halbkreisförmige Bogen in die Höhe; die Brücke, die er trug, berührte er nur auf einer Fläche von fünfzig Fuß. Das eine Ende ruhte, wie schon erwähnt, auf dem Hauptbogen, und das andere Ende war in den soliden Granit der Felswand eingebettet.
Dieser Treppenaufgang war mit seinen Stützbogen in der Tat ein Meisterwerk der Architektur, auf das jeder Mensch auf der Welt stolz gewesen wäre; zum einen aufgrund seiner unerhörten Größe, zum andern aufgrund seiner alles übertreffenden Schönheit. Viermal war das Werk, mit dem irgendwann in grauer Vorzeit begonnen worden war, gescheitert – das erfuhren wir später –, und man hatte es über drei Jahrhunderte hinweg halb vollendet so stehen lassen, bis schließlich ein jugendfrischer Baumeister namens Rademas die Stirn hatte zu behaupten, er würde das Werk erfolgreich vollenden. Er setzte für diese ungeheure Aufgabe sein Leben als Pfand ein: wenn er scheiterte, dann sollte er von eben jenem Felsen, den mit seinem Bauwerk zu erstürmen er sich so keck erkühnt hatte, hinabgeschleudert werden; sollte er jedoch das Werk erfolgreich zu Ende führen, dann sollte er zum Lohn die Hand der Königstochter erhalten. Er sollte fünf Jahre Zeit haben, die Arbeit auszuführen; Arbeitskräfte und Baumaterial wurden ihm in unbegrenzter Höhe zur Verfügung gestellt. Dreimal fiel sein Bogen in sich zusammen; schließlich, als er sah, daß sein Scheitern unvermeidlich
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