Allan Quatermain
war, beschloß er, am Morgen nach dem dritten Zusammenbruch seinem Leben selbst ein Ende zu setzen. In jener Nacht erschien ihm jedoch im Traum eine wunderschöne Frau, die seine Stirn berührte. Und plötzlich hatte er vor seinen Augen die Vision des vollendeten Werkes, und durch das Mauerwerk hindurch sah er gleichzeitig wie er all die Schwierigkeiten, die mit dem Bau des freischwebenden Bogens, der bisher seinem Genius hohngesprochen hatte, verbunden waren, mit einem Schlag lösen konnte. Er erwachte und begab sich sofort mit neuem Mut ans Werk; diesmal jedoch nach einem neuen, anderen Plan, und – siehe da! – er schaffte es, und als der letzte Tag des fünften Jahres angebrochen war, führte er die Prinzessin als Braut über die Treppe in den Palast. Und als der König gestorben war, wurde er als Gemahl der Königin zum König gekrönt und begründete die Zu-Vendi-Dynastie, die noch heute besteht, und die bis zum heutigen Tage ›das Herrscherhaus der Treppe‹ genannt wird. Dies ist einmal mehr der Beweis dafür, daß Ausdauer im Verein mit Talent das natürliche Sprungbrett für Größe und Ruhm ist. Und um seinen Triumph bis ans Ende aller Tage unvergeßlich zu machen, errichtete er ein Standbild, das ihn selbst darstellt, wie er im Traum von der schönen Frau an der Stirn berührt wird, und er ließ es in der großen Halle des Palastes aufstellen, wo es bis zum heutigen Tage zu sehen ist.
Das also war die große Treppe von Milosis mit der dahinter liegenden Stadt. Kein Wunder, daß sie ›die finster blickende Stadt‹ genannt wurde; schienen doch jene mächtigen Bauwerke aus solidem roten Granit stirnrunzelnd in ihrem düsteren Glanz auf unsere vergängliche Kleinheit herabzublicken. Das war sogar der Fall, wenn die Sonne schien; aber wenn sich erst die finsteren Wolken des Sturmes über ihrer gebieterischen Stirn zusammenballten, dann sah Milosis eher aus wie die Wohnstätte des Übernatürlichen oder wie die phantastische Ausgeburt eines Dichterhirns, als das, was sie in Wirklichkeit ist – eine vergängliche Stadt, von dem geduldigen Genius von Generationen aus der roten Stille der Berge gemeißelt.
12
Die königlichen Schwestern
Das große Ruderboot glitt nun in die künstliche Bucht hinein, die fast bis zum Fuß der riesigen Treppe reichte, und legte an einem Steg an, von dem ein paar Stufen zum Landeplatz führten. Hier stieg der alte Mann vom Schiff und bedeutete uns mit einer Geste, es ihm gleichzutun, was wir, da wir gar keine andere Möglichkeit hatten und außerdem schon bald dem Hungertode nahe waren, auch ohne zu zögern taten – nicht ohne jedoch unsere Gewehre mitzunehmen. Jedesmal, wenn einer von uns auf den Landesteg trat, legte unser Führer zum Gruße Zeige- und Mittelfinger seiner rechten Hand über die Lippen und machte eine tiefe Verbeugung. Gleichzeitig gemahnte er die Masse, die sich schon versammelt hatte, um uns anzustarren, zurückzutreten. Als letzte verließ das Mädchen, das wir aus dem Wasser gefischt hatten, das Kanu. Ihr Gefährte erwartete sie schon. Bevor sie ging, küßte sie meine Hand, vermutlich als ein Zeichen ihrer Dankbarkeit, daß ich sie in letzter Sekunde vor dem wütend zuschnappenden Maul des Flußpferdes gerettet hatte. Die Angst, die sie möglicherweise vor uns gehabt hatte, schien sie inzwischen überwunden zu haben, und keineswegs wild darauf zu sein, allzu eilig zu ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückzukehren. Jedenfalls schickte sie sich gerade an, auch noch Goods Hand zu küssen, als der junge Mann einschritt und sie davonführte.
Kaum waren wir an Land, als sich auch schon ein paar von den Männern, die das große Boot gerudert hatten, unserer Sachen bemächtigten und sie flink die riesige Treppe hinauftrugen. Unser Führer deutete uns sogleich mit einer Geste an, daß die Sachen in sicherer Obhut seien. Dann wandte er sich nach rechts und schritt zu einem kleinen Haus, das, wie ich bald herausfand, ein Gasthof war. Wir wurden in einen großen Raum geführt, in dem schon ein hölzerner Tisch gedeckt war, vermutlich für uns. Unser Führer gab uns ein Zeichen, daß wir uns auf die Bank setzen sollten, die längs des Tisches stand. Es bedurfte fürwahr keiner zweiten Einladung, sofort fielen wir heißhungrig über die Köstlichkeiten her, die man uns da auf hölzernen Tabletts serviert hatte. Es war kaltes Ziegenfleisch, eingewickelt in würzige Blätter, die ihm einen delikaten Geschmack verliehen; dazu gab es einen grünen
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