Allan Quatermain
Auskommen haben in der Klasse, in die sie hineingeboren wurden. Sie sind äußerst konservativ und betrachten alle Änderungen mit Unbehagen und Mißtrauen. Ihr gesetzliches Zahlungsmittel ist – das erwähnte ich bereits – Silber, welches man in kleine viereckige Plättchen von unterschiedlichem Gewicht geschnitten hat. Es gibt auch Goldmünzen; sie sind jedoch von geringerem Wert. Ihr Wert ist etwa so hoch wie der unseres Silbers. Man benutzt jedoch Gold, dessen Schönheit man sehr schätzt, für Ornamente und zu vielen anderen dekorativen Zwecken. Der größte Teil des Handels wird jedoch eigentlich in Form von Tauschgeschäften abgewickelt, das heißt, es wird mit Naturalien bezahlt. Das Land lebt, wie schon erwähnt, hauptsächlich von der Agrarwirtschaft, und somit stellt der Handel mit Agrarprodukten natürlich den Hauptanteil des gesamten nationalen Wirtschaftslebens. Der Ackerbau ist hochentwickelt und sehr ertragreich; der größte Teil des verfügbaren Ackerlandes ist kultiviert. Große Aufmerksamkeit läßt man auch der Vieh- und Pferdezucht angedeihen. Die Pferde, die ich dort gesehen habe, übertreffen alles, was es sonst in Afrika oder Europa gibt.
Das Land befindet sich theoretisch im Besitz der Krone, und darunter der großen Landadeligen. Diese wiederum verteilen es an kleinere Junker usw. bis hinunter zum Kleinbauern, der seine vierzig ›Reestu‹ (Morgen) bewirtschaftet und sich nach dem System des Halbprofits den Ertrag mit seinem unmittelbaren Lehnsherrn teilt. Wie ich schon sagte, ist das System ausgesprochen feudal, und wir fanden es höchst interessant, diesem alten Bekannten aus Europa mitten im tiefsten, unbekannten Afrika zu begegnen.
Die Steuern sind sehr hoch. Der Staat zieht ein Drittel des Gesamteinkommens ein, und die Priesterschaft noch einmal fünf Prozent vom Rest. Kommt jedoch andererseits jemand aus irgendeinem Grund unverschuldet in eine Notlage, dann unterstützt der Staat ihn nach Maßgabe der sozialen Klasse, der er zugehört. Ist er jedoch arbeitsscheu, dann wird er zur Arbeit an einem der Regierungsvorhaben herangezogen, und der Staat übernimmt die Versorgung seiner Frauen und Kinder. Der Straßen- und Wohnungsbau ist vollständig in der Hand des Staates. Er läßt ihm äußerste Sorgfalt angedeihen und überläßt den Familien die Wohnungen zu sehr geringen Mieten. Der Staat unterhält auch eine stehende Armee von ungefähr zwanzigtausend Mann Stärke und sorgt für die öffentliche Sicherheit. Als Gegenleistung für ihre fünf Prozent bestreiten die Priester die Instandhaltung der Tempel und die Aufwendungen für den Gottesdienst; außerdem führen sie alle religiösen Zeremonien kostenlos aus. Außerdem unterhalten sie Schulen, in denen das gelehrt wird, was sie für erstrebenswert halten; und das ist nicht sehr viel. Einige der Tempel verfügen über Privateigentum; der Priester als Individuum ist jedoch mittellos.
Und nun komme ich zu einer Frage, die nur sehr schwer zu beantworten ist: Sind die Zu-Vendi ein zivilisiertes oder ein primitives, unkultiviertes Volk? Manchmal neige ich mehr zu dem einen, dann wieder mehr zu dem anderen. Auf eigenen Gebieten der Kunst zum Beispiel sind sie zu höchster Meisterschaft und Vollkommenheit gelangt. Man betrachte nur ihre Gebäude oder ihre Skulpturen. Ich glaube nicht, daß die letzteren in Perfektion und Schönheit irgendwo auf der Welt auch nur annähernd erreicht werden, und was die ersteren betrifft, so fällt mir höchstens die Baukunst der alten Ägypter ein, die vielleicht einem Vergleich standhalten könnte; seitdem jedoch hat es wohl auf der Welt nichts mehr gegeben, was der Architektur der Zu-Vendi gleichkommt. Auf der anderen Seite jedoch sind ihnen viele Techniken, die uns seit Jahrhunderten geläufig sind, völlig unbekannt. So waren sie zum Beispiel nicht in der Lage, Glas herzustellen, bis ihnen Sir Henry, der zufällig etwas davon versteht, zeigte, wie man es macht, indem er Kieselerde und Kalk miteinander vermengte. Ihre Töpferwaren sind ziemlich primitiv. Die Uhrzeit bestimmen sie mit der Wasseruhr. Als sie zum ersten Mal unsere Uhren sahen, waren sie völlig aus dem Häuschen. Unbekannt sind ihnen auch die Dampfkraft, die Elektrizität und das Schießpulver, und zu ihrem – wie ich meine – großen Glück haben sie auch die Buchdruckerkunst noch nicht erfunden. Dadurch bleibt ihnen viel Kummer erspart, denn unser Jahrhundert hat uns meiner Ansicht nach nur allzu deutlich gelehrt, daß das uralte
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