Allan Quatermain
gehoben. Hätte man eine von beiden von der Thronfolge ausgeschlossen, dann wäre unweigerlich nach kurzer Zeit ein blutiger Bürgerkrieg ausgebrochen; aber man hatte überall im Lande das Gefühl, daß diese Lösung nur sehr unbefriedigend war; keiner glaubte daran, daß sie von sehr langem Bestand sein würde. Und tatsächlich hatten auch die zahlreichen Intrigen, die immer wieder von ehrgeizigen Adeligen angezettelt wurden, die eine der beiden Königinnen zur Frau haben wollten, das Land schon mehrmals in Unruhe versetzt, und die allgemeine Auffassung war die, daß es über kurz oder lang darüber zu einem Blutvergießen kommen würde.
Ich möchte nun einiges über die Religion der Zu-Vendis erzählen; diese Religion ist eigentlich nichts anderes als Sonnenverehrung von stark ausgeprägtem, hochentwickeltem Charakter. Dieser Sonnenkult ist der Mittelpunkt des gesamten sozialen Systems von Zu-Vendis. Er wirkt sich in jeder Institution und fast allen Sitten und Gebräuchen des Landes mehr oder weniger stark ausgeprägt aus. Von der Wiege bis zum Grab folgt der Zu-Vendi der Sonne, und zwar in mehrfacher Hinsicht. Als Kleinkind hält man ihn feierlich in ihr Licht und weiht ihn dem ›Symbol des Guten, dem Ausdruck aller Macht und der Hoffnung auf die Ewigkeit‹. Diese Zeremonie entspricht unserer Taufe. Schon als kleines Kind lehren die Eltern ihn, daß die Sonne der sichtbare und allmächtige Gott sei, und er betet zu ihr, wenn sie aufgeht, und wenn sie versinkt. Und eines Tages, noch immer im Kleinkindalter, geht er dann, das kleine Händchen fest an den herabhängenden Togazipfel der Mutter geklammert, zum ersten Mal zum Sonnentempel in die nächste Stadt und hört dort, wenn zur Mittagsstunde die hellen Strahlen auf den goldenen Hauptaltar fallen und das Feuer, das auf ihm brennt, überstrahlen, wie die Priester in ihren weißen Roben ihre Stimmen zu feierlichen Lobgesängen erheben, und sieht, wie die Menschen betend auf die Knie fallen, und dann wird er zum ersten Mal Zeuge jenes Spektakels, bei dem unter dem Schall der goldenen Fanfaren das Opfer in den Flammenofen unterhalb des Altars geworfen wird. Und dann, zum Jüngling herangewachsen, kommt er wieder an diesen Ort, wo ihn die Priester zum Manne weihen und ihn segnen, auf daß er seinen Mann im Kriege und bei der Arbeit stehen möge; und vor denselben heiligen Altar führt er eines Tages seine Braut; und ebenfalls an diesem Orte wird, sofern Zwietracht sich erhebt, seine Ehe wieder geschieden.
Und so schreitet er sein ganzes Leben lang weiter in diesen Tempel, bis zu seinem letzten Gang; dann kommt er wieder, bewaffnet zwar noch immer, jedoch als Toter. Sie tragen seinen Leichnam in den Tempel und stellen seine Totenbahre auf die Messingfalltür vor dem Ostaltar, und wenn der letzte Strahl der untergehenden Sonne auf sein bleiches Gesicht fällt, dann werden die Bolzen herausgezogen, und er verschwindet für immer in den tosenden Flammen des Ofens unter dem Altar.
Die Priester der Sonne sind unverheiratet. Ihr Nachwuchs rekrutiert sich aus den Reihen junger Männer, die von ihren Eltern schon frühzeitig ganz dieser Aufgabe geweiht und vom Staat unterstützt werden. Das Recht zur Ernennung in höhere Ämter innerhalb der Priesterschaft liegt in den Händen der Klone; einmal ernannt, können die Priester jedoch nie wieder ihres Amtes enthoben werden. Es ist nicht übertrieben, wenn man sagt, daß sie die eigentlichen Herrscher des Landes sind. Sie bilden eine festgefügte, unerschütterliche Gemeinschaft, in der strikter Gehorsam und absolute Verschwiegenheit herrschen. Erläßt zum Beispiel der Hohepriester in Milosis eine Order, so wird diese auf der Stelle und widerspruchslos von dem Priester einer kleinen Provinzstadt, die vielleicht drei- oder vierhundert Meilen von der Hauptstadt entfernt liegt, ausgeführt. Sie sind gleichzeitig die Richter des Landes, sowohl im zivilen, als auch im strafrechtlichen Bereich. Eine Berufung kann nur beim obersten Lehnsherr des Bezirkes eingereicht werden, und von dort aus wird sie weitergeleitet zum König. Natürlich verfügen die Priester auch über die praktisch uneingeschränkte Rechtssprechung in religiösen und moralischen Angelegenheiten; desgleichen steht ihnen das Recht der Exkommunizierung zu, ein Recht, das, wie auch in Ländern höherer Zivilisation, eine äußerst wirksame Waffe darstellt. Und so üben sie in der Tat fast uneingeschränkte Macht aus. Ich möchte jedoch hier der Gerechtigkeit halber
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