Alle auf Anfang - Roman
Nachbarin
Das tut ihm alles unendlich leid. Dass er die alte Dame so früh am Morgen aus dem Bett geklingelt hat. Dass sie jetzt hier mit ihm sitzen muss, nachdem sie ihm eigens einen Kaffee gekocht hat, den er dann doch nicht trinkt. Dass er nicht einen einzigen vollständigen Satz herausgebracht hat, geschweige denn einen zusammenhängenden Gedanken fassen kann. Mein. Kind. Ist. Verschwunden.
Immerhin: Die Nachbarin hat seine Situation verstanden. Sie haben beschlossen, gleich miteinander die Gegend nach der Kleinen abzusuchen und erst, wenn das erfolglos bleiben würde, die Polizei zu verständigen. Sonst, ist Urs eingefallen, muss er nachher noch den Einsatz bezahlen, wenn er nicht zuerst alles in seinen Möglichkeiten Stehende selbst versucht hat. Sonst sitzt er da und wartet und muss doch selber etwas tun. In seinen Möglichkeiten.
»Dann gehe ich jetzt mal ins Bad«, sagt die Nachbarin und lässt ihn allein in ihrer Küche zurück. Er klammert sich an den Griff des Bechers. Gestern noch war ihm diese Küche vollkommen unbekannt. Über den kleinen Reihenhausflur des Nachbarhauses ist er nie hinausgekommen. Noch am Abend, als er die Kleine ins Bett gebracht und ihr versprochen hat, dass die Mama zurückkommt, wenn sie schläft, noch gestern Abend hat er sich eine Situation wie diese hier nicht ausmalen können. Wie lange ist das jetzt her? Er rechnet kurz nach. Jetzt ist es Viertel vor Sechs, also hat er die Kleine vor genau neuneinhalb Stunden zugedeckt und ihr den Gutenachtkuss gegeben. Es ist erst neuneinhalb Stunden her, dass sie noch eine normale Familie waren. Sein Magen krampft, wenn er den hellbraunen Inhalt der Tasse ansieht. Er kann sich genau vorstellen, wie der kalte Kaffee schmeckt. Was er sich nicht vorstellen kann: sein Leben von nun an.
Er starrt in den Kaffee und malt sich eine andere Nacht aus. In der er nach dem Anruf aus der Klinik die Kleine weckt, sie anzieht und mitnimmt. Oder einen Abend, an dem er Claudia, die ihn aus der Stadt anruft, bittet, sofort nach Hause zu kommen, da die Kleine sonst nicht schlafen kann. Oder einen Tag, den er sich freigenommen hat, um Claudia in die Stadt zu begleiten, zusammen mit Fee. Claudia hätte ihre Angelegenheiten im Verlag erledigt und er wäre mit der Kleinen solange in den Zoo gegangen, und danach hätten sie alle miteinander einen Spaziergang durch den Englischen Garten unternommen und anschließend einen Biergarten besucht, so, wie sie es sich lange schon vorgenommen hatten. Sie wären noch jetzt die Familie, die sie vor neuneinhalb Stunden waren. Sein Mund trocknet aus, sein Hals schnürt sich zu.
Er nimmt die Tasse und trinkt den widerlich kalten Kaffee. Hätte er besser aufgepasst. Heute Nacht, die letzten Jahre.
Where have you been, my blue-eyed son
Der Song ist längst vorüber, doch in Anselms Kopf klingt er noch nach, während der dritte oder vierte vollkommen gleichförmige Chartstitel durch das Auto wummert. Mittlerweile ist es im Wagen sehr warm geworden. Lange hält Anselm das nicht mehr aus. Er braucht Gewissheit. Mit den Augen sucht er den Parkplatz des Fährhafens ab, auf dem jetzt mehr und mehr Autos eintreffen. Am Rand, zwischen Deich und Bushaltestelle, entdeckt er, was er sucht: eine Telefonzelle.
»Mach doch, was du willst«, erklärt er dem Jungen, »geh von mir aus da rüber und such dir deinen Internetpoint. Ich gehe mal telefonieren.«
Er angelt sich seine feuchten Kleidungsstücke von der Rückbank, zwängt sich sitzend in die Hose, streift das Hemd über und steigt aus.
»Du fährst mich doch nach Bremen, oder?«, ruft Jasper ihm nach. »Du musst! Du hast mich entführt!«
Anselm tippt sich an die Stirn. Dreht sich um und geht mit weit ausholenden Schritten über den Parkplatz. Der Wind pfeift von See her und treibt ihn bis hinüber zur Telefonzelle. Es ist eine dieser offenen, nur sparsam überdachten Säulen, immerhin kann er mit Münzen bezahlen. Kreiskrankenhaus, hört er die Stimme von Jaspers Mutter über den Strand hallen. Er wählt die Nummer der Auskunft und lässt sich verbinden.
Es meldet sich der Empfang. Anselm hält sich das freie Ohr zu, um das Pfeifen und Heulen des Windes nicht zu hören, und nennt Claudias Namen. Er habe von einem Unfall gehört und ob sie dort eingeliefert worden sei. Man gibt ihm die Auskunft, sie läge noch auf der Intensivstation, würde aber schon heute Vormittag auf die chirurgische Station verlegt und hätte dann auch Telefon, er möge es doch später noch einmal
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