Alle auf Anfang - Roman
worden, oder ein neues Lokal hatte aufgemacht. Oder sie haben uns von der letzten Frühjahrssturmflut erzählt. Und die ganze Zeit über habe ich vorn am Bug gestanden und hinausgestarrt und zugesehen, wie die Insel immer größer und größer wurde.«
»Können wir dann bitte jetzt nach Bremen fahren?«
Jasper hat die Arme vor der Brust verschränkt. Er klingt betont gelangweilt. Zugleich zucken seine Beine nervös, als ob er sich mühsam beherrschte.
»Lass uns doch erst mal die Klamotten etwas trocknen«, schlägt Anselm vor, »außerdem: Du wolltest doch ans Meer.«
»Soll ich jetzt dankbar sein, oder was?« Jasper hat wieder zu trommeln begonnen.
Wäre durchaus angebracht, denkt Anselm, verkneift sich die Bemerkung aber. Stattdessen dreht er sich im Sitz um und greift nach seiner Hose. Der Stoff fühlt sich immer noch feucht an.
»Kaufen wir eben neue Sachen«, schlägt Jasper vor, ohne von seinen trommelnden Fingern aufzusehen. Anselm lacht kurz auf.
»Hast du keine Kreditkarte?«, fragt Jasper. »Meine Mutter gibt dir das Geld zurück, ehrlich.«
Anselm deutet auf die niedrige Häuserzeile hinterm alten Hafen. »Was willst du hier denn kaufen? Surfanzüge? Friesennerze?«
Jaspers Knie zucken jetzt im gleichen Rhythmus wie seine Finger. Das Tempo wird immer rascher. »Dann lass uns ins Fährhaus gehen und was Warmes trinken«, sagt er, »vielleicht haben die ja einen Internetpoint.«
Anselm lehnt sich tief in die Polster zurück. »Weißt du was, Kleiner? Ich habe in meinem Leben schon viele Idioten gesehen. Jeder war scharf auf irgendwas anderes Bescheuertes. Aber du, mein Söhnchen, bist von allen mit Abstand der größte Junkie.«
»Hör auf mit dem Gequatsche, Söhnchen und so«, blafft Jasper, »entweder, wir gehen da jetzt rein, oder wir fahren sofort zum Flughafen.«
»Was willst du da eigentlich?«
»Zurückfliegen. Da wartet ein Online-Ticket auf mich.«
»Sag mal«, Anselm stützt einen Arm auf die Kante der Rückenlehne und fixiert Jasper, »weißt du eigentlich, was da auf dich wartet, am Flughafen München oder spätestens zu Hause? Nicht deine grinsende Gespensterfamilie, sondern die Bullen. Oder glaubst du, man darf einfach so nachts maskiert über die Autobahn rennen und einen Unfall auslösen, ohne dass einem hinterher von offizieller Seite ein paar Fragen gestellt würden?«
Jasper versucht, so zu tun, als sei ihm egal, was Anselm ihm gerade eröffnet hat, doch es gelingt ihm nicht. Also trommelt er einfach weiter, und seine Beine zucken dazu.
»Verdammt, wach auf, Junge! Game over! Dein Kinderleben ist seit heute Nacht vorbei, kapierst du das nicht?«
Anselm hat seine gemütliche Position aufgegeben. Am liebsten möchte er den Jungen schütteln. Stattdessen legt er die Hände auf die Knie und atmet tief durch.
»Ich schlage vor, du genießt jetzt noch ein paar Stunden das Meer, bis zur Hochflut vielleicht. Da fährt so schnell keiner mehr mit dir hin. Ein paar Stunden Freiheit, dann kannst du immer noch zurückfliegen.«
»Ich schlage vor, wir gehen da jetzt rein und schauen, ob die Internet haben.«
Mit der flachen Hand schlägt Anselm aufs Lenkrad. Die Hupe geht los. Erschrocken sehen die Hafenarbeiter zu ihnen herüber. Jasper winkt ihnen jovial zu und stellt das Radio an. Eigentlich will Anselm es sofort wieder ausstellen, hat schon die Hand gehoben, da erkennt er den Song, der gerade läuft. Dylan. A hard rain’s gonna fall. Eines seiner Lieblingsstücke. Er lässt die Hand sinken, lehnt sich zurück. Auch der Junge hört zu. »Where have you been, my blue-eyed son«, nuschelt Dylan. Und Anselm sieht den leeren Kindersitz in Claudias Auto. Wo wäre er heute, wenn er ihr damals nicht das verdammte Messer in die Hand gedrückt hätte? And it’s a hard, it’s a hard rain gonna fall.
Bela, starr vor Schmerz
Hängt über der Kloschüssel. Kann nicht kotzen. War das falsch, alles falsch. Ist er nicht vorgesehen hier. In diesem Marmorbad. In Alma. Frau Doktor Lund.
War das falsch mit dem Geld. Warum ist er hergekommen? Warum hat er Espresso getrunken mit dem Hollywoodmann? Und der Nachbar ist krank und er geht zu Fuß in die Arbeit, geht über die elende Brücke. Warum schaut er auch hinunter? Und warum kann er nicht kotzen?
Steht auf und wankt zum Waschbecken. Hahn auf. Mit den Händen das Wasser ins Gesicht geschaufelt. Wie zu Hause am Brunnen. Schaut er hoch in den Spiegel. Schaut er weg.
Ist er falsch hier.
Urs vor einer Tasse mit kaltem Kaffee bei der
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