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Alle auf Anfang - Roman

Alle auf Anfang - Roman

Titel: Alle auf Anfang - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sabine Zaplin
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schließt sich wieder. Der Bus fährt los.
Claudia sucht den Schmerz
    Nein, hat sie eben auf die Frage der Nachtschwester geantwortet, nein, sie habe keine Schmerzen. Die Schwester hat sich verabschiedet, und seitdem sieht Claudia dem Morgenhimmel vor dem Fenster zu. Immer heller wird das Bild, immer mehr vom hellen Grau darüber getüncht. Hat sie Schmerzen?
    Ihr Blick hängt am Fenster, während sie versucht, ihre Beine zu spüren. Nichts tut weh. Alles. Der Kopf. Der Hals beim Schlucken. Die Schultern. Die Kanüle im Arm. Der Rücken. Und dann ist Schluss. Weiter geht es nicht. Sie kommt in ihre Beine nicht hinein. Sie schließt die Augen und sieht sich durch die Stadt gehen. Ihre Beine im Spiegel der Schaufenster. Sie hat sie nie gemocht. Sie hatte einen Unfall. Was für ein merkwürdig normaler Satz. Hat sie selber diesen Satz jemals gesagt? Sie versucht es. Ich hatte einen Unfall. Die Lippen sind trocken, die Stimme ist rau, der Satz bleibt auf der Zunge kleben. Und Schmerzen hat sie keine. Nicht in den Beinen.
    »Guten Morgen«, hört sie eine Stimme, »ich bin Schwester Margot. Bitte mal kurz Temperatur messen.«
    Eine andere Schwester steht vor ihr und richtet ein Fieberthermometer auf sie. Claudia hebt die Arme, und die Schwester schiebt es ihr unter die linke Achsel. »Fest zumachen. Haben Sie Schmerzen?«
    Nein!, hätte Claudia gerne gebrüllt und schüttelt stattdessen stumm den Kopf. Das Thermometer piept, die Schwester kontrolliert die Skala, kontrolliert anschließend Infusion und Wundflüssigkeit und nickt Claudia abschließend aufmunternd zu. »Wahrscheinlich kommen Sie heute noch runter von Intensiv auf Station. Frühstück kommt gleich.« Ehe Claudia etwas fragen kann, ist sie schon aus dem Zimmer.
    Ich hatte einen Unfall, formt Claudia einen Satz ohne Ton mit den Lippen. Sie will an die Taubheit in ihren Beinen nicht mehr denken, sie konzentriert sich auf den Kopf. Hier scheint alles in Ordnung. Name, Adresse, PIN-Code. Familienstand. Alles da. Aber nachher komme ich wieder, versprochen. Das ist Urs’ Stimme gewesen. Er ist hier gewesen, ehe sie erwachte. Ich muss nach der Kleinen sehen, hat er gesagt. Also ist er jetzt zu Hause bei Fee. Zu Hause ist alles in Ordnung. Kein Grund zur Sorge. Keine Schmerzen.
    »Frühstück!«
    Wieder eine andere Stimme. Wieder ein neues Gesicht. Kräftige Hände ziehen den Nachttisch heran, klappen eine Tischplatte aus, stellen ein Tablett darauf ab. »Ich stelle Sie eben mal hoch.« »Bitte«, flüstert Claudia, es strengt an zu sprechen, »was ist mit meinen Beinen?«
    »Ich habe keine Informationen«, sagt die Schwester, »der Arzt kommt gleich. Haben Sie denn Schmerzen?«
    Wenn es doch so wäre. »Nein«, flüstert Claudia. »Guten Appetit«, wünscht die Schwester und rauscht aus dem Zimmer.
    Wieder allein. Und doch nicht in Ruhe. Ihre Beine im Schaufensterspiegel. Ihre Beine auf dem Theaterklappsessel. Ihre Arme auf der blanken Tischplatte beim Wein nach der Vorstellung. Ihr Fuß auf dem Gaspedal und der andere auf der Bremse. Wie ein Blitz zuckt ein weißer Fleck durch ihren Kopf. Ein weißes Gesicht links vom Auto. Ein lachender roter Mund.
    Sie hebt den Deckel vom Teller und auf diesem liegt: ein Zwieback. Der Hunger, den sie angesichts dieser Nichtigkeit verspürt, treibt ihr die Tränen in die Augen. Sie will hier nicht sein. Sie versucht, den Nachttisch wegzuschieben, doch sie hat nicht genug Kraft. Und gestern noch ist sie geflogen, zusammen mit Anselm über den Weingläsern, das weiß sie noch. Sie presst die Hand vor den Mund. Weint.
    »Guten Morgen«, sagt der hereinkommende Arzt und schiebt den Tisch beiseite, »Haben Sie Schmerzen?«
    »Ja!«, stößt Claudia aus. Es ist ein Schrei. Endlich.
Kurz vor Einsetzen der Flut
    »Du Idiot!«
    Laut brüllend kriecht Anselm auf allen vieren durch den Schlamm. »Es ist weg, eingesunken, wahrscheinlich irgendwo im Priel dahinten. Das finde ich nie wieder!«
    Jasper kann sich vor Lachen kaum halten. »Vielleicht ruft ja einer an, dann hörst du es schon.«
    Anselm richtet sich auf. Blind vor Wut starrt er den Jungen an. Dann bückt er sich, greift mit beiden Händen in den schlammigen Sand, rennt auf Jasper zu und klatscht ihm die nasse, braunschwarze Masse ins Gesicht. Ohne sich das Zeug abzuwischen, nimmt Jasper eine Handvoll Schlick und schleudert das nach Salz und Tang stinkende Zeug auf Anselm, der sofort zu schlagen und zu treten beginnt. Sekunden später liegen beide im feuchten Untergrund, kämpfen

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